Heidi

Heidi

Jesus erzählt ein Gleichnis für alle, die das Weite suchen, um ihr Glück zu finden. Und er erzählt das Gleichnis für alle, die ihr Glück suchen und nicht finden. Mit deiner Sehnsucht nach dem Glück, mit deinem Suchen und Finden bist du Gott willkommen. Und Scheitern ist keine Schande, ist Jesu Botschaft. Was für ein Glück. Das Gleichnis geht so:

»Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere sagte zum Vater: ›Vater, gib mir meinen Anteil am Erbe!‹ Da teilte der Vater seinen Besitz unter den Söhnen auf. Ein paar Tage später machte der jüngere Sohn seinen Anteil zu Geld. Dann zog er in ein fernes Land. Dort führte er ein verschwenderisches Leben und verschleuderte sein ganzes Vermögen. Als er alles ausgegeben hatte, brach in dem Land eine große Hungersnot aus. Auch er begann zu hungern. Da bat er einen der Einwohner des Landes um Hilfe. Der schickte ihn aufs Feld zum Schweinehüten. Er wollte seinen Hunger mit dem Schweinefutter stillen, das die Schweine fraßen. Aber er bekam nichts davon. Da ging der Sohn in sich und dachte :›Wie viele Arbeiter hat mein Vater, und sie alle haben mehr als genug Brot. Aber ich komme hier vor Hunger um. Ich will zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden. Nimm mich als Arbeiter in deinen Dienst.‹ So machte er sich auf den Weg zu seinem Vater.

Sein Vater sah ihn schon von Weitem kommen und hatte Mitleid mit ihm. Er lief seinem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Aber sein Sohn sagte zu ihm: ›Vater, ich bin vor Gott und vor dir schuldig geworden. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.‹ Doch der Vater befahl seinen Dienern: ›Holt schnell das schönste Gewand aus dem Haus und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an den Finger und bringt ihm Sandalen für die Füße. Dann holt das gemästete Kalb her und schlachtet es: Wir wollen essen und feiern! Denn mein Sohn hier war tot und ist wieder lebendig. Er war verloren und ist wiedergefunden.‹ Und sie begannen zu feiern.

Lukas 15 i.A.

Es gibt Menschen, die sind gemacht für das Erkunden der Welt und der Meere. Sie ziehen los. Ohne genauen Plan. Ohne Ziel. Überraschungen sind vorprogrammiert. Katastrophen heißen sie willkommen. Sie machen das Beste daraus. Es gibt Menschen, die brauchen diesen Kick.

In dem berühmten Gleichnis von Jesus geht einer los. Und die Katastrophe bleibt nicht aus. Er heißt sie nicht willkommen. Er kehrt um. Heim zu Papa. Und die Freude ist groß.

Die Bibelkundigen haben bemerkt, dass ich nicht die ganze Geschichte gelesen habe. Denn da ist ja noch der Bruder des Heimgekehrten, der minimal begeistert über soviel Feierlaune ist. Denn er hat immer Leistung gebracht. Ist immer bei seinem Vater geblieben. Hat sich der Verantwortung für Haus, Hof und Familie gestellt. Das ist allen Lobes wert. Und auch einer Feier.

Aber nur für heute schaue ich auf den, der in die Fremde ging und heimkehrt. Weil das Leben mit uns oft so spielt, dass wir das warme Nest verlassen, ob wir wollen oder nicht. Und damit irgendwie klar kommen müssen. Und einen Ort finden müssen, an dem wir landen können. Wo Gutsein ist. Darum überschreibe ich Jesu Gleichnis heute mit „Die Heimkehr“.

Ich glaube, das Thema Heimkehr ist ein zutiefst menschliches. Verbunden mit der Frage, wo ich eigentlich zuhause bin. Örtlich und geistlich. Und darum erzähle ich euch heute von Adelheid. Ihr kennt sie besser unter dem Namen Heidi. Also die Heidi. Die aus Maienfeld in der Schweiz. Johanna Spyri erzählt von dem Waisenkind. Heidis Tante Dete bringt Heidi zu ihrem Großvater auf die Alp. Der Alpöi ist ein echter Einsiedler. Ein Grantler vor dem Herrn. Er hat sich aus dem Dorf zurückgezogen. Man munkelt, die Dorfbewohner hätten ihn verbittert. Und nun kommt dieses unbefangene Kind. Es zerreißt dem Alten das Herz. Eigentlich hat er überhaupt keine Lust auf Kinderbespaßen. Aber andererseits erweicht Heidi mit ihrem kindlichen Charme sein Herz.

Als es Winter wird, soll Heidi in die Schule. Aber das hätte bedeutet, dass auch der Alte hinab ins Dorf hätte ziehen müssen. Und das ging für ihn gar nicht. Wegen der Menschen. Und seiner Geschichte mit ihnen.

Also ging Heidi. Besser: sie wurde gegangen. Weg aus den Bergen in die Großstadt Frankfurt zur Familie Sesemann. Als Gefährtin für die gehbehinderte Halbwaisin Klara, deren Vater beruflich viel unterwegs war. Fremde Menschen. Fremde Stadt. Fremde Ansichten, wie die der Hausdame Fräulein Rottmeier, einer ältliche Jungfer. Irgendwann ist das zu viel für Heidi. Sie erkrankt buchstäblich an Heimweh. Also kehrt Heidi wieder heim. Denn es ist so, wie Gitti und Erika mal zugegebenermaßen ziemlich kitschig gesungen haben:

Heidi,
Deine Welt sind die Berge.
Denn hier oben bist du zu Haus.
Dunkle Tannen,
Grüne Wiesen im Sonnenschein.
Brauchst du zum Glücklichsein!
Heidi,
Komm nach Haus,
Find dein Glück,
Komm doch wieder zurück!

Für Heidi sind die Berge Heimat. Für andere Sehnsuchtsort. Für die Menschen zum Beispiel, die einst den 121. Psalm angestimmt haben. Verbunden mit der Hoffnung anzukommen. Bei Gott. Beim Heiligen. Beim Ewigen. Eine Pilgerreise dorthin sollte das Leben krönen. Manche unternahmen die Reise als Gelübde nach einer Heilung. Oder als Bitte um Vergebung. Egal, was die Motivation für die Reise war: das Ziel war und ist es noch immer: ein Ort, an dem Gutsein ist.

Von dem Motiv einer Pilgerreise waren Jüdinnen und Juden während des Naziregimes weit entfernt. Sie suchten ihr Heil in der Flucht. Notgedrungen kehrten sie ihrer Heimat Europa den Rücken. Wandten ihr Gesicht und ihre Hoffnung hin nach Israel. In ein fremdes Land. Wo es zwar den biblischen Sehnsuchtsort Jerusalem und den heiligen Berg Zion gab, aber sonst nichts Vertrautes. Und fremd war die arabische Bevölkerung, mit der man sich arrangieren musste. Was bis heute konfliktbeladen ist.

Es ist außergewöhnlich, dass ein Jahr nach Ende des zweiten Weltkriegs Johanna Spyris Heidi zum ersten Mal ins Hebräische übersetzt wurde. Eine besondere Ehre, denn aus verständlichen Gründen wurden kaum deutschsprachige Werke ins Hebräische übertragen. Aber Johanna Spyri war Schweizerin. Ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied.

Die Geschichte von Heidi rettete den ausgewanderten, den vertriebenen Jüdinnen und Juden etwas von der verlassenen Heimat. Sie nahmen ein Stück Europa mit nach Palästina, auch wenn sie selber nie in den Bergen gelebt hatten. Sie nahmen Heidis Geschichte als Ihre mit. Die Geschichte von Menschen, die gegen ihren Willen aus dem Nest geschupst wurden. Die sich in einer fremden Welt zurecht finden müssen.

In der Irre kommt Heidi gerade recht. Weil immer wieder die Frage aufkommt: wo bin ich zuhause? An welchem Ort? In welchem Geist? In welchem Glauben?

Mit Johanna Spyris Heidi ist es so, als kommt Gott selbst zu mir. Als erfüllt er, was Jesus seinen Freundinnen und Freunden beim Abschied gesagt hatte: „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.“

Es tröstet mich, es gibt mir Frieden, dass Gott so viele Wege findet, um zu mir zu kommen. Bei mir einzuziehen. Selbst mit der rührenden Geschichte von Heidi aus den Bergen.

Es tröstet mich, es gibt mir Frieden, dass es immer einen Weg zurück zu Gott gibt. Und ich bei ihm einziehe.

Als Heidi in die Berge und zu ihrem Großvater zurückkehrt, hat sie ein Buch im Gepäck, dass sie in Frankfurt geschenkt bekommen hatte. Es erzählt Jesu Gleichnis vom heimgekehrten Sohn. Voller Freude und völlig unbefangen legt sie dem Alten die Geschichte vor. Johanna Spyri schreibt:

“Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?” fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend da saß und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern. “Doch, Heidi, die Geschichte ist schön”, sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Großvater hin und sagte: “Sieh, wie es ihm wohl ist”, und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn. Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!” Und ein paar große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.“

Heidi erinnert den Öhi an das, was der einmal geglaubt hat. An den liebenden Gott, den der Großvater verloren hatte. Und Heidi wird zur Evangelistin. Sie bringt die Gute Botschaft. Unbelastet von den Altlasten der Menschen im Dorf bringt sie die Botschaft von der Liebe Gottes. Die alles aushält. Die nicht an- und aufrechnet. Die nie aufhört. Die Bibel nennt diese Liebe Gottes „Gnade“.

Wo die Gnade ist, bin ich gern. Seien es Menschen oder Orte. Die Berge gehören dazu. Denn ich habe nichts zu ihrer Schönheit dazu getan. Sie sind einfach da. Machen mich ruhig. Manche auch demütig. Sie bleiben immer gleich, auch wenn sie sich immer neue Kleider anziehen. Aus Wolken zum Beispiel. Pink beim Sonnenaufgang. Rotgold beim Alpenglühen. Weiß im Winter. Grün im Sommer. Bunt im Herbst. Ich finde so ist die Liebe. Sie wandelt sich. Und bleibt doch immer, was sie ist.

Da, wo diese Liebe wohnt, ist Gutsein. Gott schenke, dass du und ich diesen Ort finden. So sei es. Amen.

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