Stabat Mater

Stabat Mater

Image by Dorothée QUENNESSON from Pixabay

Am Karfreitag 2022 wurde das „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi in der Evang.-Luth. Christuskirche Oberstdorf musiziert.

Giovanni Battista Pergolesi führt zum Kreuz hin. Er stellt die Hörenden mit Jesu Mutter unters Kreuz. Pergolesi gibt Maria eine Stimme. Freilich in Worten, die für protestantische Ohren schwere Kost sind. Neapel, wo Pergolesi geboren 1710 geboren wurde, galt damals als Epizentrum der barocken Marienverehrung. Es gab dort über 200 der Gottesmutter geweihte Kirchen und elf Wunder wirkende Madonnenfiguren. Wir können uns also das Umfeld, in dem das „Stabat Mater“ entstand, nicht theatralisch und «katholisch» genug vorstellen. Uns Protestanten und Protestantinnen geht eine Anrufung Marias einfach nicht über die Lippen. Der Text ist ein mittelalterlicher Hymnus aus dem frühen 13. Jahrhundert. Er ist geprägt von einer Leidensmystik, der wir zwar auch in den Passionschorälen unseres Gesangbuchs begegnen. Das heißt aber noch nicht, dass sie dadurch leichter zugänglich wäre.
Es heißt, Pergolesi habe sich mit dem Komponieren des „Stabat Mater“ beeilt, weil er sein Honorar für diese Auftragsarbeit schon erhalten hatte. Und weil er mit 26 Jahren dem Tod schon ins Auge sah.

Was Pergolesi vollbracht hat, ist ein Wunder. Es ist kaum zu fassen, wenn man versucht, Musik und Text zusammenzubringen. Wir hören auf Marias Schmerz. Zwei Ichs sind zu hören. Das Ich der Maria. Und das Ich eines Menschen, der Marias Worte hört und sich ganz in ihren Schmerz hinein gibt.

Ich habe mich von den alten Texten inspirieren lassen und versuche, mit meinen Worten Maria eine Stimme zu geben. Stellvertretend für alle, die keine Worte haben in ihrem Schmerz. Wir tasten uns an den Rand des Schmerzes und schauen, ob es einen Weg hinaus gibt. Die Musik wird uns ziehen. Heraus aus dem Schmerz. Heran an die Ahnung, dass der Schmerz und das Leid nicht alles sind im Leben. Die Musik wird es nicht schwer haben, uns zu berühren. Sie geht ans Herz. Ich zumindest kenne keine leichtere Musik unterm Kreuz. Hier kannst du die Musik hören!

Mein Gott! Erinnerst du dich, wie alles begann? Du hast mich besucht. Mit Engelsflügeln kamst du angerauscht. Mit Engelszungen hast du meine Seele erobert. Erhoben. Für einen Moment dachte ich, ich verliere den Boden unter den Füßen. Du lässt herzlich grüßen, sagte mir der Engelsmund. Und dass du mir deine Gnade schenkst. Und dass du mit mir bist.

Mein Gott! So viele schöne Worte! Große Worte! Viel zu groß für mich! Zum Fürchten! Aber du sagtest: „Fürchte dich nicht“, und mir wurde leichter ums bange Herz. Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt! Was ich mit diesem Kind alles durchmache. Mit deinem Sohn! Mehr als sieben Schmerzen! Mehr als tausend Tode!

Ich habe ihn entbunden, irgendwo unterwegs.
Ich bin mit ihm geflohen vor dem Kindermord!
Ich habe ihn gefunden in deinem Haus. Zeit und Raum und Familie hatte er vergessen mitten in der fremden Stadt Jerusalem. Damals war er Zwölf! Verstehst du, ZWÖLF!! An jenem Tag hat er sich von mir entbunden. So früh! Viel zu früh!

Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn die eigene Familie ihn verrückt nennt?
Kannst du dir vorstellen, dass mein Ja zu diesem Kind an schlechten Tagen in mir leise wurde?
Verzeihe, wenn ich das sage. Aber es tut weh, wenn das eigene Kind so tut, als gäbe es mich nicht. Als wenn für ihn nur Schwester, Bruder und Mutter ist, wer Gottes Willen erfüllt. Nicht, dass ich mich nicht darum bemühte, deinen Willen zu tun. Ich habe es dir von Anfang an gesagt: »Ich diene dem Herrn. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast.« Dazu stehe ich. Aber einfach ist es auch nicht. Nein, eigentlich geht das gar nicht.

Mein Gott! Verstehe doch meinen Schmerz. Du kannst doch nicht weniger Schmerz haben. „Sohn des Höchsten“ soll er heißen, hast du am Anfang gesagt. Und jetzt hängt er da am Höchsten. Schau dir an, was sie mit ihm gemacht haben! Für welche Schuld? Für welche Sünde? Der Tod ist ein ziemlich hoher Preis dafür, dass mein Kind niemandem geschadet hat. Auch wenn er manchmal rau war. Aber vielleicht muss man das sein, wenn alles so glatt ist. Wenn keiner widerspricht aus Angst vor denen, die das Sagen haben. Wenn keiner mehr kämpft um sein Leben – und das der andern. Wenn keiner mehr hofft auf die Kraft der Liebe. Wenn keiner mehr erwartet, dass die Welt heil wird.

Und nun sinkt das Heil, das du versprochen hast, in den Tod. Und ich versinke mit. Und du auch, nicht wahr? Mein Gott, wo bist du denn? Ich habe das Engelswort nicht vergessen, als alles angefangen hat. Erinnerst du dich? „Die Kraft des Höchsten wird dieses Wunder in dir bewirken“, hast du mir sagen lassen durch den Engelsmund als ich nicht wusste, wie mir geschehen wird.

Nun stehe ich wieder da. Ohne Kind. Und weiß nicht wie mir geschehen wird. Darum bitte ich nur eines. Bleibe bei mir, wie mein guter Josef, obwohl er nicht der Vater war. Du bist der Vater dieses Kindes. So hat Jesus dich genannt. Also bleib! Komme mit deiner Kraft. Vollbringe ein neues Wunder in mir. Erbarme dich, mein Gott. Um meiner Tränen willen.

Liebe Schwester, lieber Bruder im Schmerz. Etwas Großes hat Gott über mein Leben ausgesprochen. Gnade und Wunder sind sein Name. Heute kann ich nicht groß glauben. Nicht jetzt. Nicht in meinem Schmerz. Diesen Schmerz wünsche ich niemandem. Er nimmt alles. Er sticht mir ins Herz bis es reißt. Er zieht mich runter. Meine Seele sinkt in Grabestiefe. Voller Tränen sind meine Augen über das vergangene Leben. Über das ungelebte Leben. Über die verschmähte Liebe. Oder die unverstandene? Eine Dichterin eurer Tage sagt: „Den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ Wie recht sie hat, meine Schwester im Schmerz. Und wie das geht, jetzt zu leben? Ich weiß es nicht. Ich ahne es nur.

Heute glaube ich nicht groß. Heute denke ich klein. Hoffe, über diesen Moment des Todes zu kommen. Übe mich darin, nicht an meinen Tränen zu ersticken. Über mich zu atmen. Ich glaube, damit habe ich genug zu tun. Willst du es auch versuchen mit mir, Schwester, Bruder? In deinem Schmerz? In deiner Trauer? In deiner Not?

Atmen. Atmen. Atmen.
Still werden.
Und irgendwann klar werden.

Atmen. Atmen. Atmen.
Tränen sammeln.
Und irgendwann neue Kraft.

Atmen. Atmen. Atmen.
Aufstehen.
Und irgendwann Haltung annehmen.

Atmen. Atmen. Atmen.
Einen kleinen Schritt vor den andern setzen.
Und irgendwann das Herz fassen.

Atmen. Atmen. Atmen.
Dieses Herz, dies zerrissene, öffnen.
Und irgendwann den Mund.

Atmen. Atmen. Atmen.
Alles für möglich halten.
Und irgendwann selbst das Wunder.

Liebe Schwester, lieber Bruder im Schmerz. Wann das sein wird? Ich weiß es nicht. Nur wer es erlebt hat, kann es sagen. Irgendwann wird das Wunder sein Lied in den Schmerz tönen, wie der Vogel beim Anbruch des Tages. Das glaube ich.

Ich lade dich ein, meinen kleinen Glauben mit mir zu teilen. Still zu werden. Vielleicht hörst du nur deinen Atem. Vielleicht hörst du nur deine Tränen. Hab Geduld.

Liebe Schwester, lieber Bruder im Schmerz. Ich wünschte, meinem Mutterherzen wäre dieser Tag erspart geblieben. Und alle Tage, an denen ich mit meinem Kind und an meinem Kind gelitten habe. Und dennoch, liebe Schwester, lieber Bruder, ist es mein Kind. Bleibt es mein Kind. Immer.

Ich wünschte, ich hätte mein Kind besser verstanden. Hätte sagen können: was er sagt und tut, ist alles einem Höheren geschuldet. Etwas Großem. Etwas Göttlichem.

Ich wünschte, ich hätte mein Kind beschützen können. So wie am Anfang seines Lebens. Ich konnte es nicht. Ich werde auch dich nicht schützen können, auch wenn du darin deine Hoffnung setzt, wenn das dein Glaube ist. Ich kann es nicht, so sehr du und ich auch verbunden sind im Schmerz. Du gehst deinen Weg. Und ich geh meinen.

Ich glaube: meine Seele könnte sich wieder aus dem Staub erheben, wenn etwas bliebe von meinem Kind. Bei mir. Bei dir.

Nehmen wir nur dieses eine mit vom Kreuz. Seine Passion. Seine Leidenschaft. Für alles und jeden. Für alles, was klein ist. Die Kraft. Der Glaube. Die Gesundheit. Der Geist. Der Geldbeutel. Die Wahrheit. Die Ehrlichkeit. Der Mut. Die Liebe. Ja, an der Liebe scheiden sich die Geister. Mein Kind wollte nicht einfach nur „lieb“ sein. Das war er beileibe nicht. Er wollte lieben. Über sich hinaus. Groß lieben. Lieb sein, kann jeder. Groß lieben, das ist eine große Aufgabe. Hören. Mitfühlen. Verstehen. Sagen und tun, was das Kreuz leichter macht. Ohne Kreuz kommt keiner durchs Leben. Das wusste er. Und dass man sich mit großer Liebe keine Freunde macht.

Liebe Schwester, lieber Bruder, meine Gefährten im Schmerz, ich frage dich: Welcher Mensch möchte nicht mitfühlen mit den Männern und Frauen, deren Kinder vor der Zeit sterben.

Welcher Mensch möchte nicht mitfühlen mit den Körpern und Seelen, denen im Namen der Liebe und des lieben Gottes Schaden zugefügt wurde?

Welcher Mensch möchte nicht mitfühlen mit den Männern, die um ihre Heimat kämpfen, mit den Frauen, die ausharren in den Ruinen, mit den Frauen und Kindern, die ihr Heil in der Flucht suchen?

Welcher Mensch möchte nicht mitfühlen mit Gottes Kreaturen, die leiden um des Menschen Willen?

Welcher Mensch möchte nicht mitfühlen mit allen, die an ihrer Schuld leiden und sich nach einem vergebenden Wort sehnen?

Liebe Schwester, lieber Bruder, meine Gefährten im Schmerz, im Mitgefühl. Ich stelle mich zu dir. Stelle du dich zu mir. Wir halten uns und betrachten mein Kind. Betrachten die Liebe, die größer ist als dein und mein Vermögen. Und Gott wird abwischen die Tränen von unseren Augen. Und der Schmerz wird nicht mehr sein. Noch Leid. Noch Geschrei. Und der Tod wird nicht mehr sein. Weil die Liebe niemals aufhört.

Liebe Schwester, lieber Bruder, wenn dieses Lied in dir und mir zu klingen beginnt:

Das wäre groß. Das wäre Gnade. Das wäre ein Wunder! Kaum zu glauben! Heute!