Seelenhygiene

Seelenhygiene

Predigt am Sonntag Rogate
5. Mai 2024
Evang.-Luth. Christuskirche Oberstdorf

Lesung: 1. Johannes 4, 7-12 (in Auswahl, Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache (BigS))
„Gott, wir müssen reden.“ So kann ein Gebet beginnen. Aber wo ist dieser Gott? Wie nah ist er mir? Im 1. Johannesbrief schreibt einer, was er glaubt:
Geliebte, lasst uns einander lieben. Die Liebe ist von Gott. Alle, die lieben, sind von Gott geboren und kennen Gott. Die nicht lieben, kennen Gott nicht, denn: Gott ist Liebe.
Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Gott uns geliebt hat. Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, dann sind auch wir verpflichtet, einander zu lieben. Keiner und keine hat Gott je gesehen. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und Gottes Liebe ist in uns zum Ziel gekommen. Gott ist Liebe. Gott hält sie in uns fest.

Text: 2. Mose 32, 7-14 (BigS)
Gott sprach zu Mose: „Geh schnell hinunter, dein Volk, das du aus Ägypten heraufgebracht hast, ist dabei, Unheil anzurichten.
Sie haben die Ordnungen, die ich ihnen geben ließ, schon übertreten. Sie haben sich ein gegossenes Stierbild gemacht, haben es angebetet und ihm geopfert. Dan haben sie ausgerufen: „Das ist deine Gottheit, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt hat!“
Gott sagte zu Mose: „Ich sehe ein, dass dieses Volk hoffnungslos starrköpfig ist.
Nun halte du dich bitte heraus: Ich will meiner Wut auf sie freien Lauf lassen und sie vernichten. Dich aber mache ich zu einem großen Volk.“
Mose versuchte trotzdem, sein Gegenüber, seine Gottheit umzustimmen und argumentierte: „Warum bist du so wütend auf dein Volk. Du hast es doch eigenhändig mit großer Macht und furchtbarer Gewalt aus Ägypten herausgebracht!
Warum sollen die Ägypter und Ägypterinnen triumphieren dürfen: Ha! Er hat sie mit böser Absicht befreit; er wollte sie im Gebirge umbringen und ganz vom Erdboden vertilgen.“ Lass doch ab von deinem glühenden Zorn, bereue, dass du deinem Volk eine solche Katastrophe schicken willst.
Denke doch bitte an die Familien von Abraham, Isaak und Jakob! Sie haben dir gedient, und du hast ihnen selbst eidlich zugesagt: „Ich will eure Nachkommen so zahlreich wie die Sterne am Himmel machen. Das ganze Land, von dem ich geredet habe, werde ich euren Nachkommen geben; sie sollen darin für immer wohnen.“
Da bereute Gott es tatsächlich, dass er angekündigt hatte, seinem Volk eine solche Katastrophe schicken zu wollen.

Heute ist ein besonderer Tag. Der 5.5.. Ok, Schnapszahl könnt ihr jetzt sagen. Und sonst noch? Konfirmation und Feuerwehrjubiläum. Und sonst noch? Beide Fünfen stehen für die fünf Finger einer Hand. Und weil das so ist, hat die Weltgesundheitsorganisation den 5.5. zum Welttag der Handhygiene ausgewählt. Wie wichtig die ist, wissen wir seit den Jahren, in denen uns das Covid-Virus das Fürchten gelernt hat. Könnt ihr euch noch erinnern? Ist schon wieder zwei Jahre her, vier, seit es ausgebrochen ist. Darum schadet es nicht, sich wieder bewusst zu machen: In weniger als 60 Sekunden kann ich dafür sorgen, dass sich eine Krankheit nicht durch mich verbreitet. Händewaschen ist angesagt. Händewaschen schützt. Nimm dir Zeit, lautet der Appell der WHO.

Ein gutes Motto für den Sonntag Rogate. Nimm dir Zeit zum Beten. Wenn ich bete, dann tue ich etwas für meine eigene Hygiene. Die Hände, die ich vielleicht zum Beten falte, können sich schon mal nicht als Faust gegen jemanden erheben. Die gefalteten Hände können schon mal nicht schaffen.

Nimm dir Zeit. Fürs Beten. Egal wann. Egal wo. Egal wie. Egal, was.

Ich habe schon als Kind Gebete gelernt: Liebergottmachmichfrommdassichindenhimmelkomm. Ob wohl ich damals als Kind nicht verstanden habe, wer Gott ist. Und vor allem, wo dieser Gott ist.
Ich habe als Kind das Vaterunser gelernt. Weil die Erwachsenen es alle gemeinsam sagten oder brummten, habe ich es auch gelernt. Ich wollte dazu gehören.

Heute bete ich meistens singend oder schweigend. Gott und ich verlieren fast keine Worte. Eine Anrede fällt mir schwer. Manchmal sage ich „Lieber Gott“, obwohl ich nicht glaube, dass Gott ein Mann ist. Aber die Anrede drückt Nähe aus und etwas Zärtliches. Anders kann ich Gott nicht denken, weil ich ihn anders nicht erlebe. Mir ist deshalb ganz nah, was wir eben aus dem 1. Johannesbrief gehört haben:

„Gott ist Liebe.“ Nicht die Liebe. Weil es nicht die Liebe gibt. Wer Liebe bestimmen will, kann immer sagen: da hört die Liebe auf oder auch nicht.

Aber wenn es stimmt, dass Gott eine unbestimmte Liebe ist, dann ist Gott das auch. Wer Gott bestimmen will, kann immer sagen: das will Gott oder eben nicht.

Gott ist Liebe. Wie ich von Gott rede, sagt etwas darüber aus, wie tief ich von Liebe durchdrungen bin. Wieweit ich Liebe in der ganzen Weite zulasse. Ich erschrecke mich manchmal über die Extreme, die Liebe haben kann. In mir.
Es gibt Tage, da bin ich ganz erfüllt von Liebe, die ein glückliches Paar erfährt, so wie bei Einfach heiraten vor zehn Tagen.
Ich kenne in mir eine Liebe, die das Leid eines Menschen barmt. Ich kenne in mir eine Liebe, wie sie Kinder in sich tragen, wenn sie sagen: wenn du mir das nicht gibst, bist du nicht mehr mein Freund.
Ich kenne in mir auch eine pathologische Liebe, die nur noch kaputt machen oder sich nicht mehr hingeben will, weil sie nicht erwidert wird.

Und wisst ihr was? So ist Gott. Schwer zu glauben, oder? Ich finde diese Erkenntnis krass, dass Liebe, wie ich sie eben beschrieben habe, in mir steckt. So extrem. Und dass Gott so ex-trem in mir steckt. Es gibt diese undurchsichtigen und kriegerischen Zeiten wie wir sie gerade erleben, da ringen in mir die Ex-treme der Liebe um das angemessene Maß.

Die Bibel erzählt eine Geschichte von dem Ringen um eine angemessene Liebe. Das Volk Israel war aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Es lebt gerade im Dazwischen: hinter sich die klaren Verhältnisse einer Gefangenschaft in Ägypten. Vor sich das verheissene gelobte Land. Im Dazwischen lebt es sich nicht gut.

Damit es gut geht, hat das Volk von Gott Regeln bekommen. Aber auch mit Regeln geht´s nicht gut. So kommt es im wahrsten Sinne des Wortes zu einem erstaunlichen Gipfelgespräch zwischen Mose, dem Anführer des Volkes, und dem Höchsten. Was da gesagt wird, irritiert. Erst recht, wenn es stimmt, dass Gott Liebe ist. Hört selbst!

Gott sprach zu Mose: „Geh schnell hinunter von diesem Berg, dein Volk, das du aus Ägypten heraufgebracht hast, ist dabei, Unheil anzurichten. Sie haben die Ordnungen, die ich ihnen geben ließ, schon übertreten. Sie haben sich ein gegossenes Stierbild gemacht, haben es angebetet und ihm geopfert. Dann haben sie ausgerufen: „Das ist deine Gottheit, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt hat!“ Gott sagte zu Mose: „Ich sehe ein, dass dieses Volk hoffnungslos starrköpfig ist.

Was die Bibel erzählt, ist nicht neu: Die Menschen richten Unheil an, wenn sie unzufrieden sind. Sie schaffen Fakten, wenn sie ohne Führung sind. Keine Minute kann man sie allein lassen. Und Mose ist immerhin schon vierzig Tage unterwegs.

Originell dagegen ist, wie menschlich dieser Gott Mose begegnet. Es wie in den besten Familien. Läuft alles rund, sind es unsere Kinder. Läuft es schlecht, sind es deine Kinder. Gott nimmt Mose in die Verantwortung. Du hast deinen Job nicht gemacht.

Gott setzt nach: Nun halte du dich bitte heraus: Ich will meiner Wut auf sie freien Lauf lassen und sie vernichten. Dich aber mache ich zu einem großen Volk.“

Ist das noch Liebe? Wenn es Liebe ist, dann eine, von der einer im Hohelied Salomos singt: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, so dass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können.“ Fast kindlich, trotzig ist diese Liebe: Komm mir nicht in die Quere. Ich will jetzt wütend sein!

Mose lässt sich den Schwarzen Peter nicht zuschieben. Er muss da mit Gott mal was sortieren. Die Geschichte erzählt:

Mose versuchte trotzdem, sein Gegenüber, seine Gottheit umzustimmen: Warum bist du so wütend auf dein Volk. Du hast es doch eigenhändig mit großer Macht und furchtbarer Gewalt aus Ägypten herausgebracht!

Mose nimmt Gott so ernst, dass er ihn nicht als den entfernten Weltbeweger anspricht, auch wenn er ihn nicht sieht. Jetzt ist es Mose, der Gott in die Pflicht nimmt. Mose und Gott sind sich sich so nah, dass Mose mit einer so unglaublichen chuzpe, mit solch heiliger Dreistigkeit Gott auch noch entgegenwirft:

„Warum sollen die Ägypter und Ägypterinnen triumphieren dürfen: Ha! Er hat sie mit böser Absicht befreit; er wollte sie im Gebirge umbringen und ganz vom Erdboden vertilgen.“

Zwischen den Zeilen höre ich Mose sagen: „Hört, hört, der arme, kleine Gott, der in seiner Liebe verletzt ist. Jetzt will er alles vernichten, was er geschaffen hat. Dann war die ganze Mühe, alles Streiten um die Freiheit des Volkes umsonst. Die Ägypter lachen sich tot über dich. Gott, du machst dich komplett lächerlich und zum Gespött.“ Mose ist jetzt so richtig in Fahrt und redet weiter auf Gott ein:

Lass doch ab von deinem glühenden Zorn, bereue, dass du deinem Volk eine solche Katastrophe schicken willst.
Denke doch bitte an die Familien von Abraham, Isaak und Jakob! Sie haben dir gedient, und du hast ihnen selbst eidlich zugesagt: „Ich will eure Nachkommen so zahlreich wie die Sterne am Himmel machen. Das ganze Land, von dem ich geredet habe, werde ich euren Nachkommen geben; sie sollen darin für immer wohnen.“

Wieder nimmt Mose Gott in die Pflicht. „Denk doch bitte an deine Verheißungen!“ Sie sind zumindest bei Jakob und bei Mose über Menschen ausgesprochen, die betrogen und getötet haben. Darum kann Vernichtung auch jetzt nicht die angemessene Reaktion auf Schuld sein. Das ist das eine Argument von Mose.
Das andere ist: Gott ist noch nicht fertig. Das gelobte Land ist verheißen. Und da ist das Volk noch nicht angekommen.

Da erzählt die Geschichte das Unglaubliche: Da bereute Gott es tatsächlich, dass er angekündigt hatte, seinem Volk eine solche Katastrophe schicken zu wollen.

Gott lässt ab von seinem Plan. Gott bereute, heißt es in der Bibel in gerechter Sprache. In anderen Übersetzungen: Es reute ihn. Er hat Mitleid. Ich finde, dass keine Übersetzung das hebräische Wort nacham überzeugend wiedergibt. Es hat viele Bedeutungen. Zum Beispiel in seinem Grunde „trösten“. Und das trifft es doch viel besser. Gott war wieder bei Trost. Gott beruhigte sich. Gott gewann an Selbstbeherrschung. Gott konnte wieder frei atmen. All das steckt in nacham. Den Reichtum dieses Wortes und seinen Platz in dieser biblischen Geschichte nehme ich mit, wenn ich ans Beten denke.

„Gott ist Liebe. Keiner hat Gott je gesehen. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und Gottes Liebe ist in uns zum Ziel
gekommen.“ Darum geht es doch: dass Gott in uns ankommt und wir in ihm. Dazu müssen wir im Namen der Liebe reden. Laut oder leise. Zaghaft oder mit chuzpe. Im Gebet erlaube ich mir, Liebe sprechen zu lassen. Wild. Zärtlich. Frei. Hin und her und her und hin. Bis ich klar sehe. Mein Herz sich beruhigt. Und ich wieder atmen kann. Das ist Seelenhygiene at it´s best. In weniger als sechzig Sekunden schon kann die geschehen. Sie bewahrt mich davor, dass von mir Worte und Taten ausgehen, die andere krank machen. Eine gute Seelenhygiene befähigt mich, für mich und meine Welt ganz bei Trost zu sein. Erfüllt von Liebe. So sei es. Amen.

Roland Sievers

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