Ich glaub. Ich bin im Wald.

Ich glaub. Ich bin im Wald.

Wege zu einer Schöpfungsspiritualität, die dem Naturerlebnis einen Mehrwert schenkt.

Vortrag (gekürzt) anlässlich der Landestagung des Kindergottesdienstvebandes in der Evang.-Luth. Kirche in Bayern in Pappenheim 2020

Hinführung

Drei Prologe zu Beginn. Sie stammen alle nicht von mir. Passen aber gut als Einstieg ins Thema.

Prolog 1: Matthias Claudius

Zu einem meiner Lieblingslieder gehört „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius. Besonders die 5. Strophe hat es mir angetan.

„Gott, lass dein Heil uns schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; lass uns einfältig werden und vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein.“

Ich liebe Kinder, wenn sie in dem Zustand „fromm und fröhlich“ sind. Da sind sie ganz bei sich, egal, wie die Eltern drängeln. Wenn Kinder „fromm und fröhlich“ sind, befinden sie sich oft im Entdeckermodus. Dann ist gerade wichtig, wie ein Marienkäfer einen Grashalm hinauf klettert. Fromme und fröhliche Kinder staunen, weil für sie alles das erste Mal ist, was sie sehen. Ich wünsche mir, wir Erwachsenen könnten unsere Welt auch so sehen. Staunend, als wenn wir sie zum ersten Mal entdecken. Und uns dann nicht satt sehen können. Ich glaube, solche Menschen sind Gott recht. Die staunen über seine Wunder.

Prolog 2: Erich Kästner

Anfang der fünfziger Jahre erhielt Erich Kästner von einer Zeitschrift den Auftrag, einmal im Monat ein Naturgedicht zu schreiben. Ergebnis dieser Arbeit sind dreizehn Gedichte »eines Großstädters für Großstädter« und andere Zivilisationsgeschädigte, in denen Kästner mit viel Witz und Poesie die Natur lebendig werden lässt. In seinem Vorwort schreibt Erich Kästner:

„Die großen Städte hatten Strauch und Baum und Wiese aus den Mauern gejagt. Hinaus zu den Friedhöfen und Zoologischen Gärten … Die Brauereipferde werden von den Kindern angestaunt wie galvanisierte Saurier. Sitzt ein Vogel irgendwo, ist’s ein entflogener Wellensittich. Der Balkon blieb ein rührender, fünf Quadratmeter großer Versuch, etwas Himmel überm Kopf zu haben. Doch was hat man überm Kopf? Einen Balkon. Was hat man, außer dem Geranientopf, vor Augen? Fenster, Drähte, Mauern und im besten Falle Geranientöpfe und Balkons. Die Natur kann sonntags vor der Stadt besichtigt werden, samt dem Friedhof und dem Zoo. Sie wurde ein Museum ohne Dach. Es fehlt nur noch, dass man dem Hahnenfuß, der Esche und dem Hänfling kleine Nummernschilder umhängt. Das Gänseblümchen wurde zur „Victoria regia“ degradiert. Die Jahreszeiten finden in der Markthalle statt. In den Blumenläden und auf den Gemüsekarren. Und, zum Frühstück, als Wetterbericht.“

Kästner hält ein Plädoyer die Jahreszeiten „in echt“ zu erleben. „Live“ is „life“, sozusagen. Raus gehen. Natur genießen.

Und wenn der Mensch das macht, dann passiert, was Heinz Erhardt bedichtet:

Prolog 3: Heinz Erhardt

Ich geh im Urwald für mich hin…
Wie schön, dass ich im Urwald bin.
Man kann hier noch solange wandern,
ein Urbaum steht neben dem andern.
Und an den Bäumen, Blatt für Blatt

hängt Urlaub –
schön, dass man ihn hat.

Der Wald erscheint bei Heinz Erhardt als ein Naturraum und als Inbegriff eines Freizeitraumes. Ein Anderland. Ein Erholungsraum. Wandern oder Waldbaden. Baum umarmen. Den Boden ertasten auf einem Barfußpfad. Anderer Geruch. Vogelgezwitscher. Es ist tatsächlich, als wenn der Mensch in der Natur in einer anderen Welt ist. Paradiesisch, weil in der Regel nicht dauerhaft zugänglich. Nicht weil es verschlossen wäre. Sondern weil oft die Zeit nicht da ist, vor die Stadt zu fahren. Oder in die Berge. Ein Tag in der Natur ist paradiesisch. Und mancher wähnt sich dann dem Schöpfer und dessen Schöpfung nah. Auch weil er selber anders aus der Natur herauskommt als er reingegangen war. Beinahe wie neugeboren.

Schöpfung und / oder Natur

Wichtig ist mir zu Beginn, dass wir uns mit zwei begriffen beschäftigen, die – auch von mir – unscharf gebraucht werden. Schöpfung und Natur. Oft nutze ich sie als Synonyme, als wenn beides dasselbe wäre. Ist es aber nicht. Sie sind allerhöchstens miteinander verwandt.

Für eine Klärung der Begriffe Natur und Schöpfung halte ich es für sinnvoll, mit beiden Augen zu sehen. Klingt banal, ist es aber nicht.

Mit dem einen Auge blicke ich auf die Natur. Das ist kein theologischer Begriff.  Was Natur ist, davon hat der Mensch eine Ahnung. Er sehnt sich eben nach einer „unberührten“ Natur. Und das meint gegenüber der Kultur: eine Landschaft, in der der Mensch nicht seine Finger im Spiel hat. Wenn aber der Mensch für die Klimaerwärmung, für verunreinigtes Trinkwasser usw. verantwortlich ist, dann gibt es schlechthin keine unberührte Natur.

Die vielfach gepriesene „unberührte“ Natur ist ein Mythos, aber nicht Realität. Das mag jetzt manchen enttäuschen. Weil doch für viele eigentlich nur Balkonien mit seinem Geranienwucher und das in die Schranken gewiesene Unkraut im Garten und der moosbefreite Wimbledonrasen als gezähmte Natur gelten.

Selbst bei mir in den Bergen haben wir bis oben hinauf Kulturlandschaft. Ganz hart ausgedrückt: wenn die vielen Urlauber nicht wären, dann hätten wir wahrscheinlich auch kaum noch eine Alpwirtschaft. Umgekehrt kann ich es auch sehen: Der Tourismus profitiert von den Kühen auf der Alpe. Solange sich Menschen in den Bergen in der Freizeit aufhalten, solange lohnt sich auch das Bewirtschaften von Hütten. Irgendwo muss die Milch ja herkommen bei so viel Käse- und Milchkonsum. Und eine Hüttenwirtin, die sich für einen Berggottesdienst Zeit genommen hat, klagte: diese Stunde gehört mir. Das muss drin sein bei 130 Portionen Kaiserschmarrn am Tag. Find ich auch.

Der Mensch hat sich die Natur Untertan gemacht, nicht nur zum Guten. Aber trotz des Menschen bietet die Natur immernoch Orte, die mein Augen staunen lassen. Naturschauspiele wie Tautropfen auf einem Blatt. Wasserfälle. Eine Schnecke auf Durchreise. Ich sage euch: da wird man die Ruhe selbst.

Ich staune darüber, welche Strategien Tiere und Pflanzen haben, um da, wo sie leben, zu überleben. Ich werde euch später noch von einer kleinen Pflanze erzählen, die ich seit vergangenem Jahr ins Herz geschlossen habe. Aber genauso, wie mein Naturauge staunt, erschrickt es auch: angesichts der Kraft, die in ihr steckt. Der der Mensch ausgesetzt ist. Vulkanausbrüche, Erdbeben, Seebeben mit verheerenden Flutwellen, Lawinenabgänge, Felsstürze.  Natur ist nicht immer nur schön. Sie ist gewaltig und entzieht sich dem menschlichen Gestaltungswillen. Es gehört vielleicht zu den erschreckendsten Erkenntnissen des Menschen, dass er gegen Naturgewalten machtlos ist.

Ich nehme jetzt mein zweites Auge hinzu. Frei nach dem Slogan des ZDF: „Mit dem Zweiten sieht man besser!“ Oder anders. Ich will es halten wie Franz von Assisi. Er lebte in der Natur, mit den Geschöpfen zusammen. Aber alles Leben, das ihn um gibt, ist mehr. Ein Baum ist nicht nur ein Baum. Ein Berg nicht nur ein Berg. Eine Blume nicht nur eine Blume. Die Sonne nicht nur die Sonne. Der Mond nicht nur der Mond. Sie sind ihm Brüder und Schwestern. Und alles, was ist, verdankt sich dem, der alles Leben ins Leben gerufen hat. Der, so wird berichtet, über alles, was er geschaffen hat, gesagt hat: Siehe, es war sehr gut. Eins mit Sternchen.

Ich nutze also meine beiden Augen. Ich sehe, was ist. Beginne zu staunen über Kraft und Schönheit der Natur. Und mit dem Zweiten sehe ich Aufführung Gottes. „Mein Auge schauet, was Gott gebauet“, hat Paul Gerhardt gedichtet. Darüber kann ich mich von Herzen freuen.

Wenn ich mir den Blick mit beiden Augen gönne, dann werde ich den Schöpfergott nicht weichzeichnen. Gott ist kein Kuschelgott. Und wenn ich in der Natur und mit der Natur predige, halte ich es mit Fulbert Steffensky, der sich vehement gegen die „Verhaustierung“ Gottes wehrt.

Wenn ich mir den scharfen Blick mit beiden Augen gönne, wenn ich die Natur und die Schöpfung zusammenschaue, dann nehme ich auch den Menschen samt aller Kreatur mit all ihrer Freude und allem Schmerz ernst. Es ist eben nicht alles Sonnenschein. In der Schöpfung sind die Geschöpfe einander zugemutet. Wenn es ums nackte Überleben geht, dann kennen die Geschöpfe untereinander keine Freunde.

Ein Blick mit beiden Augen bewahrt mir eine demütige Haltung. Die Natur ist in ihrer Kraft für mich unbeherrschbar. Gott als Schöpfer der Natur ist für mich unverfügbar. Dieses Eingeständnis bin ich mir schuldig, aber auch allen, mit denen ich in diese Welt schaue.

Ich weiß, dass die Schattenseite der Schöpfung, schwer auszuhalten ist. Ich weiß auch, dass wir jetzt lange darüber diskutieren könnten, ob Naturgewalten, die für Menschen zu einer Katastrophe werden, eine Aufführung Gottes sind.
Ich weiß auch, dass nicht wenige Wissenschaftler annehmen, dass auch Vulkanausbrüche, Erdbeben und Tsunamis menschengemacht sind. Auf diesem Gebiet bin ich keineswegs ein Fachmann. Aber diese theologische und wissenschaftliche Diskussion ist für heute ein zu weites Feld. Für heute soll es genügen, dass es im Umgang mit der Schöpfung, im Erleben wie im Reden etwas gibt, was Rudolf Otto in Bezug auf das Heilige mal als „mysterium faszinosum“ und das „mysterium tremendum“ ausgedrückt hat. Das nicht zu lösende und zu ergründende Geheimnis, dass Gott den Menschen fasziniert und erschreckt. Was mir jedoch Ruhe schenkt ist, dass Gott um seinen Schrecken, seine Gewalt weiß. Mose stellt er zum Schutz extra in eine Felsspalte, weil der den Anblick Gottes nicht aushalten würde. (2. Mose 33, 22)

Diese Klärung der Begriffe Schöpfung und Natur war mir zu Beginn wichtig. Sie ist für mich notwendig für eine ehrliche, eine aufrichtige Verkündigung.

Auf diesem Grund denke ich darüber nach, wie das Geschöpf „Mensch“ unter den anderen Geschöpfen leben kann und dabei seiner Verantwortung gerecht wird, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Das geht auch ohne moralischen Zeigefinger. Das Augenöffnen ist verheißungsvoller. Ein „du musst“ vermiest den Tag im Freien, egal ob im Urlaub oder am Wochenende. Ein „du bist“ dagegen ist eine Zusage. Du bist „Leben inmitten von Leben, das leben will“ (Albert Schweitzer). Schon vor beinahe 50 Jahren versuchte das Konzept der Tiefenökologie Natur und Schöpfung als einen Ort der Selbstbegegnung und der Gottesbegegnung zugleich neu zu erschließen. Der Mensch soll im Einklang mit sich selbst und mit der Natur leben. Dabei soll er sich insbesondere seiner Rolle als „Bewahrer“ oder „Zerstörer“ seiner eigenen Welt bzw. Lebensgrundlage bewusst werden. Denn wie kann jemand die Schöpfung aufs Spiel setzen, über die er sich freut und deren Teil er ist? Dass er es kann haben wir vor Augen. Und dass er es kann, ist umso schmerzhafter.

Lust an der Schöpfung

Ich gestehe euch, dass ich ein Faible für weisheitliche Texte des Alten Testaments habe. Zwei Texte habe ich euch mitgebracht. Der erste Text weckt in mir Lust. Die Weisheit spricht selber (Sprüche 8, 22ff.):

„Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als Gott die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN.“

Dank der neuen Perikopenordnung bin ich auf diesen Text gestoßen. Er ist Predigttext an Jubilate. Leider erst wieder in fünf Jahren.

Mit der Sophia, der Weisheit, kam die Lebenslust, das leichte Spiel in Gottes Schöpfung. Und dies eröffnet mir einen neuen Horizont in einer hochaktuellen gesellschaftlichen Debatte um die Bewahrung der Schöpfung. Ich nehme war, dass der Begriff Schöpfung vornehmlich Störung verknüpft wird. Und Angst. Besonders bei Jugendlichen. Die Fridays-for-future-Bewegung steht dafür.

So berechtigt diese Angst ist: Ist es wirklich allein die Mahnung, die die Welt rettet? Der Blick auf die Gefährdung?

Die Weisheit singt ein anderes Lied. Ihr Lied handelt von der Freude über die Schöpfung. Weil die das einzige Leben ist, was wir haben. Weil sie so schön ist. Weil sie so viele Wunder hervorbringt. Weil ich mich so freuen kann über die wachsende Pracht im Mai, die volle Blüte im Sommer, die Düfte der Blüten, die köstliche Ernte im Herbst. Deshalb will ich sie schützen, die Schöpfung. Aus Lebensliebe, nicht aus Todesangst.

Den zweiten weisheitlichen Text liebe ich so, weil er mich groß macht. Es ist gut zu hören (Weisheit Salomos 11, 21 -12, 1):

„Du, Gott, liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist.“

Diesen Glauben aus der Weisheit Salomos entdecke ich auch in Jesu Frömmigkeit. Bei Jesus hat die Natur einen großen Stellenwert. Er hat Gott nicht nur am Sabbath in der Synagoge gesucht, sondern auch am Anfang seines Wirkens in der Wüste, später allein in der Natur, auch auf dem Berg oder einem See.

Jesu Gleichnisse bezeugen diese tiefe Naturverbundenheit. Die Lilien auf dem Felde lehren Gelassenheit. Das Gesetz von Stirb und Werde, von Wachsen und Reifen ist für ihn nicht nur ein Naturgesetz, sondern zugleich ein Geheimnis vom Reich Gottes. Nur wer das Leben verliert, wer leer wird, kann auferstehen und sich mit neuem Leben füllen lassen.

Viele Zeitgenossen suchen wie Jesus Gott in der Natur. Frei nach dem Motto: „Ich glaub. Ich bin im Wald!“ Den Kirchen ist das irgendwie immer noch suspekt. Auch wenn es immer mehr werden, die einer Schöpfungsspiritualität etwas abgewinnen können. Für meine Kolleginnen und Kollegen im Arbeitsbereich Kirche und Tourismus ist die Zusammenschau von Natur und Schöpfung, auch außerhalb des Kirchenraumes täglich Brot. Und das gilt natürlich auch für alle, die in und mit der Natur leben und arbeiten.

Damit ihr mich recht einordnen könnt, sage ich: Ich rede nicht dem Auszug aus unseren Kirchenräumen das Wort. Unsere Kirchen haben ihre eigene Kraft. Aber wenn die Frage nach einer outdoor-Taufe oder Trauung kommt, dann wünsche ich mir Weite. Gerade in Zeiten, in denen Menschen nicht mehr selbstverständlich Kirchengebäude als Teil ihrer Biografie sehen. Ich wünsche mir schlicht ein lustvolles Nebeneinander der spirituellen Räume im Freien und im Kirchenraum.  Die Weidenkirche hier in Pappenheim ist freilich eine charmante Lösung.

Die Weite, die ich mir wünsche, hatte ich freilich nicht immer. In meiner Jugend waren Gottsucher in der Natur verpönt: „Wer Gott im Wald sucht, der soll sich auch vom Förster beerdigen lassen“, hat mal ein Pfarrer gesagt. Und weil wir Jugendlichen es nicht besser wussten, haben wir darüber gelacht. Es geglaubt. Und nachgeplappert. Es war chic, Menschen abzuwerten, die außerhalb der Kirche Gott suchten. Es war aber auch völlig daneben. Und vor allem weltfremd.

Die Kirchen hatten schon in meiner Jugend die Deutungshoheit für ein Gotteserleben verloren. Die Menschen scheren sich nicht mehr um kirchliche Genehmigungen. Sie suchen auf ihre Weise und an vielen Orten nach dem Eigentlichen, nach dem Sinn ihres Daseins, nach den Quellen, aus denen sie schöpfen, nach dem Grund, auf dem sie stehen – auch in der Natur.

Der Jesus des Thomasevangeliums sagt: „Spalte das Holz – und ich bin da. Hebe den Stein auf – und du wirst mich finden!“ Und Ignatius spricht davon, Gott in allen Dingen zu suchen.

Und das tun Menschen seit alters her. Viele alte Kirchen wurden auf heidnischen Kraftplätzen gebaut. Unsere Vorfahren haben sich das Wissen oder wenigstens das Erleben früherer Kulturen zunutze gemacht. Jenseits dieser Kultorte definieren Menschen immer noch „Kraft- oder Energieplätze“.

In Oberstdorf wird ein Kraftort oder Energieplatz mit Messungen ausgewiesen. Sich kreuzende Wasseradern und Erdverwerfungen lösen starke Kräfte aus. Sensible Menschen spüren die Ausstrahlungen der Erdenergien auf eine Entfernung von bis zu 100 m vom eigentlichen Kraftplatz. Man kann davon halten, was man will. Es gibt Menschen, denen tun Kraftorte gut. Und jeder Mensch kann seinen eigenen Kraftort selber definieren. Ein Ort der Naturverbundenheit. In der Einsamkeit bin ich auf mich zurückgeworfen. Auf meine Lebensfragen. Auf meine Suchbewegungen nach Erfüllung, Glück oder theologisch gesprochen: Heil. Viele erleben das beim Pilgern.

Mystik als Augenöffner

Von den Kraftorten ist es nicht mehr weit entfernt zu einem Begriff, der vor allem im Protestantismus jahrhundertelang verpönt war. Mystik. Einige Gedanken dazu will ich mit euch teilen. Und ich habe mich bei Andreas Ebert bedient, der kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand eine schöne Zusammenfassung zu dem Thema gegeben hat.

Vorreiter für eine neue mystische Bewegung innerhalb des Protestantismus waren der Schweizer Pfarrer Walter Nigg und der bayerische Diakon Gerhard Wehr. Später haben dann auf ihre je eigene Weise eine Dorothee Sölle, ein Jörg Zink oder heute eine Marion Küstenmacher für eine neue Wertschätzung der Mystik gesorgt. Und auch neue Begegnungen mit außerchristlichen Spiritualitäten ermöglicht. Dahinter steckt eine immer wieder geführte und wohl immer zu führende Diskussion: Können Christen von Buddhisten und Hindus lernen? 

Dietrich Bonhoeffer war einer der ersten, der zu Mahatma Gandhi reisen wollte, um eine Zeitlang in dessen Ashram mitzuleben. Bonhoeffer wollte von Gandhi gewaltfreien Widerstand lernen. Bonhoeffer nannte Gandhi einen „heidnischen Christen“. Aufgrund des Krieges kam es nicht zu der Begegnung. Nur zu einer verbalen Watschn eines Karl Barth. Der spottet: „Sie beabsichtigen nach Indien zu gehen, um sich dort bei Gandhi oder einem anderen Gottesfreund irgend eine geistliche Technik anzueignen, von deren Anwendung im Westen Sie sich große Dinge versprechen.“

Inzwischen gibt es eine größere Gelassenheit. Wie gesagt: was spirituell ist, dass definieren sich die Menschen inzwischen selber. Sie suchen sich, was ihnen gut tut. Das ist dann vielleicht ein sehr individueller Mix, übrigens auch bei hochverbundenen Kirchenmitgliedern (Frage nach der Auferstehung).

Ich habe mich entschlossen, diese spirituellen Suchbewegungen der Menschen ernst zu nehmen, zu würdigen und als Chance zu nutzen, von den christlichen Quellen zu reden.

Ich erlebe die meisten Menschen sehr offen: wie ein Gefäß, das nur darauf wartet, gefüllt zu werden. Mit einem Wort, das gut tut. Mit neuer Kraft. Mit Perspektive. Mit Mut. Auf dass das Neue jenes verdrängt, was das Leben darin hindert, sich so zu entfalten, wie es Gott dem Menschen zugedacht hat.

Ein Hotelier hat einmal gesagt: „Wissen Sie, die Leute geben viel Geld aus für Wellness, aber eigentlich haben sie alle nur eine Frage: wozu bin ich überhaupt da.“ Der Hotelier spricht hier von einem sinn-entleerten Leben. Und es gibt Menschen, die sind kraft-entleert (die Pflegende, die sich eine Auszeit nimmt und ihren Mann in der Kurzpflege untergebracht hat), die sind glück-entleert (der Mann, der am Berg um seine Frau trauert), einfach leer. Vielleicht auch, weil sie immer geben. Im Urlaub ist Zeit, um gefüllt zu werden. Der Volksmund sagt: die Akkus müssen wieder aufgeladen werden. Das finde ich übrigens viel schöner als „abzuschalten“. Da ist ja kein Leben, keine Energie drin. Und der Energieaufwand ist enorm groß, um das System wieder hochzufahren.

Ich glaube, über die Mystik kommen wir im Predigen überhaupt und insbesondere im Freien heraus aus einer gewissen Engführung bei der Themenwahl. Ich erlebe, wie stark der erste und der zweite Glaubensartikel in Predigten betont werden. Ich bin auch nicht frei davon. Gott, der Schöpfer, ist schnell gepriesen. Mit Gott, dem Sohn in Jesus Christus, kommen die Fragen nach Lebensführung, ethischem Handeln, Nächstenliebe ins Spiel. Bleibt eben noch Gott, die Kraft im Heiligen Geist: dahinter steht also die Frage nach den Quellen, aus denen ich schöpfe; was mich treibt? Wofür mein Herz schlägt? Wofür ich brenne? Aber auch nach der unverfügbaren Kraft, die mich verändern kann. Aber es geht für mich in diesem Artikel auch darum, dass ich als Christ mich nicht als Solitär verstehe, sondern aufgehoben bin in der Gemeinschaft der Heiligen.

Ich bin überzeugt, dass christliche Spiritualität sich trinitarisch entfaltet und den ganzen Menschen in den Blick nimmt. Als Geschöpf und somit Teil der Schöpfung, als Ebenbild Gottes und geliebtes Gotteskind; als Wesen mit Körper, Geist und Seele; als Leib, der von Gottes Kraft beseelt ist.

„Viele Wege führen zu Gott, einer führt über die Berge!“

„Andere gehen zur Therapie. Ich gehe einfach in die Berge.“ Das hat im letzten Sommer jemand in der facebook-Gruppe „Touristen Oberstdorf“ gepostet.

„Andere gehen zur Therapie. Ich gehe einfach in die Berge.“ Andere kommentieren diesen Satz:

„Man denkt in den Bergen, dass die Welt noch in Ordnung ist!“

„In den Bergen sein, ist das Beste was man machen kann!“

„In den Bergen ist alles viel schöner und man kann mal so richtig abschalten!“

„Nur oben auf den Bergen fühle ich mich richtig wohl!“

„Die Berge haben etwas mystisches Geheimnisvolles. Seit ich dort war brauche ich keine Medikamente mehr!“

„Die Berge sind was für die Seele. Ich liebe Sie.“

Schon lange sind die Berge nicht mehr allein Lebensraum für jene, die die Alpen bewirtschaften. Sie ziehen die erholungsbedürftigen Großstädter an, Flachlandtiroler, Wanderer, Kletterer, Menschen auf Rädern mit und ohne Motor, Gleitschirmflieger, Sonnenanbeter und Cappuccinotrinker. Ihnen allen sind die Berge scheinbar Therapieersatz. Medikamentenersatz. Luft zum Atmen. Balsam für die Seele.

Die Berge sind gute Therapeuten. Die Berge sind gute Lehrer. Bischof Reinhold Stecher hat das einmal gesagt. Er muss es wissen. Er galt in seiner Diözese Innsbruck bis zu seinem Tod vor sechs Jahren als der Bergbischof. Und ich finde, der Bergbischof hat recht. Berge sind gute Lehrer. Gute Lehrer geben keine fertigen Antworten. Gute Lehrer regen dazu an, eigene Antworten zu finden. Ja, unter Umständen erstmal Fragen auf zu tun. Reinhold Stecher macht diese Erfahrung auf dem Gipfel eines Berges. Er sagt: „Am Gipfel, wo die Welt zu Ende geht und wo über uns nur mehr der weite Himmel steht und die Wolken ziehen, wächst aus dem Blick in die Tiefe und Weite die Frage nach dem Sinn des Ganzen.“

Ich glaube, du und ich können nur dann gut leben für sich und im Miteinander, wenn wir uns die Sinnfrage immer wieder stellen. Wer bin ich Menschenkind eigentlich? Und wie wollen wir Menschenkinder auf dieser Erde, aber auch in der kleinen Welt, in der wir zuhause sind, leben. Wie bekommen wir es hin, dass verschiedene Antworten der Religionen auf die Sinnfrage gleichberechtigt nebeneinander stehen können – und die Menschen friedlich leben können.

In Oberstdorf versuchen wir das mit der Kampagne „Zämed duss“. Gemeinsam draußen. Eine Kampagne, damit alle zu ihrem Recht kommen, die sich in der Natur befinden, Mensch, Pflanze und Tier. „Respekt“ ist nur eine Antwort.

Die Berge sind gute Lehrer. Vielleicht ist der Vergleich mit der Therapie gar nicht so abwegig. Ich setze mich dieser anderen Welt, der Bergwelt, aus: mit dem, was ich bin. Was ich habe. Oder auch nicht habe.

Ich setze mich aus mit meiner Unruhe, die ich in mir trage, weil ich immer am Schaffen bin. Oder sein muss. Und dann stehen diese Berge einfach da. Sie tun nichts. Sie takten mich neu. Wenn ich beim Wandern von Anfang an volles Tempo gehe, werde ich es bis zum Ziel schwer haben. Berge sind gute Lehrer, um den eigenen Takt zu finden, den ich noch derschnaufen kann.

Die Berge sind gute Lehrer. Sie lenken meinen Blick auf das, was in meinem Leben Bestand hat. Mein Leben ist vergänglich. Das Leben derer, mit denen ich in Freude und Sorge verbunden bin, auch. Urlaubs- und Arbeitstage ebenso. Träume platzen. Die Kraft kommt ans Ende. Und – Gott sei es geklagt – manchmal auch die Liebe. Und dann stehen diese Lehrer da – auf den ersten Blick unveränderlich – unverrückbar. Seit Millionen von Jahren. Sie stellen mir still die Frage: Worauf verlässt du dich in deinem Leben? Worauf setzt du deine Hoffnung? Woraus speist sich deine Zuversicht? Wie verlässlich bist du eigentlich in dem, was du sagst und tust?

Die Berge sind gute Lehrer. Sie lassen mich still werden. Vorausgesetzt neben mir klingelt nicht gerade ein Handy. Die Majestät der Berge lässt mich staunen. Der Gernegroß in mir kommt hier an seine Grenze. Jegliche Allmachtsphantasie verliert im Anblick der Berge an Farbe. Hochmut kommt vor dem Fall. Ein biblisches Sprichwort, das mancher in den Bergen schon mit dem Leben bezahlen musste.

Die Berge sind gute Lehrer. Bei klarer Sicht habe ich oben am Gipfel den Weitblick. Im Herbst kommen die Tage, an denen eine dicke Wolkendecke aufs Gemüt drückt. Dann durch die Wolken brechen. Über den Wolken sein. Wo die Freiheit laut Reinhard Mey ja grenzenlos scheint. Obheiter nennen wird das im Allgäu. Oben heiter. Über den Wolken unterm Himmel werde ich weit. Enge Stirnen und harte Herzen und finstere Gedanken verflüchtigen sich im Anblick von 400 Gipfeln im Nu.

Oben am Gipfel ist dann nichts mehr über mir. Der Himmel ist zum Greifen nahe. Es ist so als hätte ich einen unmittelbaren, direkten Draht zum Himmel. Wie sagte nicht einer in facebook: „Die Berge haben etwas mystisches Geheimnisvolles.“ Im Volksmund klingt das dann meistens so: „Hier oben ist man dem Herrgott ein Stückchen näher.“ Reinhold Stecher sagt es in einem seiner bekanntesten Sätze so:  „Viele Wege führen zu Gott, einer führt über die Berge.“

Die Berge machen etwas mit mir. Über mir nur noch der Himmel mit seiner Weite, mit seiner Tiefe, mit seiner Grenzenlosigkeit.  Und doch glaube ich, dass aller Himmel Himmel diesen Gott nicht fassen können. Er wäre mir auch viel zu weit weg. Ich glaube an einen geerdeten Gott. Der unter anderem in den Bergen und durch die Berge zu mir spricht. Nicht immer gleich. Je nachdem, mit welcher Frage, mit welcher Stimmung, mit welchem Gepäck auf der Seele ich komme. Darum kann ich nicht sagen, Gott ist hier oder dort oder Gott lässt sich nur so und nicht anderes erfahren. Er zeigt nicht nur ein Gesicht. Das Antlitz Gottes wandelt sich. Ich kann es darum immer wieder anders und neu erfahren. Ich kann Gottes Angesicht sehen im Enzian wie im Geißbock. Im Sonnenuntergang wie im Tautropfen am Morgen. Im Schlendern auf dem Panoramarundweg wie in der Grenzerfahrung am Klettersteig. Im Fels wie im Bergsee. Im Duft einer Bergwiese wie im Geschmack von Wiesenkräutern. Gott ist in der Einsamkeit. Er ist in der verlässlichen Gemeinschaft einer Seilschaft. Er sitzt vielleicht gerade neben dir hier im Raum. Und lauscht.
Ich traue mich zu sagen: „Gott ist, was er in mir auslöst.“ Das ist nicht immer gleich. Und es ist für mich auch nicht verfügbar. Und festhalten kann ich es auch nicht. „Gott ist, was er in mir auslöst.“ Etwas, was mich berührt. Eine Schwingung. Klang. Emotion. Manche nennen Gott deshalb auch Resonanz. Ein Begriff, den der Soziologe Hartmut Roser ins Bewusstsein gerückt hat.

Ich glaube, dass Gott in dir und mir solch einen Resonanzraum sucht. In dem er klingen und schwingen und tönen kann. Zu Mose hat Gott gesagt: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.“ (2. Mose 33, 21) Du und ich sind der Raum, in dem Gott sich uns aussetzt. Deinen und meinen Fragen nach dem Sinn des Lebens. Und dem Suchen nach Antworten auf alles, was dein und mein Leben infrage stellt.

„In den Bergen sein, ist das Beste was man machen kann!“ Postet einer. Wer glaubt, dass Gott ihm in den Bergen Therapie sein kann, Lebens- und Glaubenshilfe, der betet wie unsere Glaubensvorfahren: Ich suche Gott auf den Bergen – wird er mir dort entgegenkommen? Meine Hilfe kommt von Gott, den ich bitte, der mich tröstet, der mein Leben behütet heute und in aller Zukunft.

Die Natur als Dolmetscherin (für Gott, für den Glauben)

Im aktuellen Korrespondenzblatt (01/2020) des Pfarrer- und Pfarrerinnenvereins in der ELKB  ist ein Vortrag von Johann Hinrich Claussen abgedruckt. Er ist der Kulturbeauftrage der EKD. In den Vortrag mit dem Titel „Klänge aus einer anderen Welt“ sagt Claussen:

„Es scheint ein Merkmal unserer Zeit zu sein, dass das Christentum heute viele Menschen über seine kulturellen Gestaltungen anzieht und einleuchtet: die Architektur, die Ikonografie, die Sprache und Literatur, die Musik des Glaubens. Der direkte Zugang ist ihnen zu schwer, aber über den Umweg der christlichen Künste finden sie eine Verbindung. Denn dieser Weg zum Glauben ist ästhetisch ausgestaltet, schön und genussvoll, nicht nur geistig, sondern auch sinnlich und körperlich, zudem ist er zwar intensiv, aber auch deutungsoffen, lässt sich nicht auf einen theologischen Satz reduzieren, erlaubt so ein individuelles Verständnis, in dem Nähe und zugleich Distanz möglich sind.“

Dazu tritt die Natur als Dolmetscherin für den Glauben an Gott. Und noch besser, wenn die Dolmetscher sich zusammentun. Wenn Worte und Töne von Dichtern und Komponisten hinzutreten. Bibel und Gesangbuch sind voll von Naturbildern.

Es lohnt sich aber auch, fremd zu gehen in der Literatur. Auf Menschen zurückzugreifen, die mit ihren Werken nicht Eingang gefunden haben in den biblischen Kanon oder ins Gesangbuch. Eine Liedpredigt über „Geh aus mein Herz“ ist möglich, aber nicht besonders originell. Psalm 121, 104 oder 8 sind irgendwann ausgepredigt. Und die güldne Sonne ist ausgiebig besungen. Und die Lilien auf dem Felde sind auch irgendwann verblüht. Ich will mich nicht auf die biblischen Klassiker stürzen. Zumindest nicht zu schnell und nicht zu oft. Dazu sind mir manche Text und Lieder zu heilig. Ich mag überraschende Zugänge. Und die Gottesdienstbesucher werden es danken. Glaubt mir. Darum ein paar Appetithappen aus der Mystik:

1. Hildegard von Bingen: Grünkraft

„Kein Baum grünt ohne Kraft zum Grünen, kein Stein entbehrt der grünen Feuchtigkeit, kein Geschöpf ist ohne diese besondere Eigenkraft, die lebendige Ewigkeit ist nicht ohne die Kraft zum Grünen. Am lichten Grün sind Himmel und Erde erschaffen und all die Schönheit der Welt.“

Für die Mystikerin und Ärztin Hildegard von Bingen bedeutet „Grün“ den Inbegriff von schöpferischer Kraft und Energie. Hildegard von Bingen nennt diese Energie auch „Grünkraft“: sie ist Sinnbild nicht nur einer kosmischen Ordnung, sondern von einer Kraft, die neues Leben erzeugen kann. Die „Grünkraft“ ist Inbegriff für strahlende Lebensfreude.

Im 13. Jahrhundert schon der Domikanerprovinzial Albertus Magnus beschäftigt sich mit der Frage, wie er Gott nahe kommen kann. In einem ganzen Buch widmet er sich dem Thema der  „Gartenbank“ und liefert sogar eine genaue Bauanleitung. Die ideale Bank besteht für Albertus Magnus aus Rasen! Für die Rasenbank legte man ein etwa kniehohes Hochbeet an, ummauerte es mit Ziegeln und füllte es mit Erde auf. Schließlich bepflanzte man das Beet an den Seiten mit aromatischen Kräutern und „lieblich duftenden“ Blumen. Und in der Mitte belegte man das Hochbeet zum Sitzen mit Rasen.

Albertus Magnus ist ein bekennender Rasenfan: „Das Auge wird durch nichts so sehr ergötzt als durch feines, nicht zu langes Gras.“ Die Rasenliebe hat für Albertus Magnus einen besonderen Grund. In seiner Biblia Mariana wagt der Heilige Albertus einen mystischen Vergleich: „Christus selbst ist das grüne Gras, das Maria, die Frucht bringende Erde gebar.“

Wenn man sich also auf einer Rasenbank oder ersatzweise im Gras niederlässt, dann ruht man praktisch auf dem Schoß Christi. Die grüne Bank ist dazu da, dass sich die Sinne erholen und die Menschen sitzen können, um sich ausruhen zu können. In Christi Schoß. Ich finde, dass ist eine schöne Vorstellung, die ich mir weiter ausmalen möchte.

3. Meister Eckhardt

Auch Tiere können prima Dolmetscher für eine Gotteserfahrung sein.

Der Mystiker Meister Eckart vergleicht doch tatsächlich die Kuh mit dem lieben Gott. Er sagt:

„Manche Menschen wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen. Sie wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um des äußeren Reichtums oder des inneren Trostes willen lieben. Die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“

Gott lässt sich von uns nicht gebrauchen wie Käse und Milch. Er ist kein Dienstleister, über den wir für das eigene Fortkommen verfügen könnten. Dafür ist Gott im wahrsten Sinne des Wortes gänzlich un-brauchbar. Ich kann ihn auch auf frommem Wege nicht einfach machen. Es gibt auch keine kirchlichen Fabriken, die Gott oder göttliche Werke produzieren oder in denen er sich melken ließe.

Gott möchte uns vielmehr auf jener anderen Ebene begegnen, die uns sagen lässt: Ohne dich will ich nicht leben; nicht weil ich etwas von dir haben muss, sondern weil du du bist. Ohne Berechnung. Sondern mit Respekt und Hochachtung vor dem einzigartigen Wesen Gottes und jedem seiner Geschöpfe.

Pflanzen als Dolmetscher: Der Gletscherhahnenfuß
Ich habe euch noch eine Pflanze als Dolmetscherin versprochen. Sie gehört vom Namen nicht zu den stars der Szene. Aber von ihrem Charakter. Mein star heißt Gletscherhahnenfuß. Wo er lebt, so ab 2500m, spricht eigentlich alles gegen Wachsen und Blühen. Die Winter dort droben sind lang und hart. Und auch im Sommer kann es über Nacht einen halben Meter Schnee geben.

Darum hat er pfiffiges Überlebenskonzept. Er kann sogar drei Jahre eingeschneit überstehen. Er kann das, weil er ein Kleinklima ausnutzt, das sich bei intensiver Sonnenbestrahlung in unmittelbarer Bodennähe entfaltet. Zwischen Geröll, in feinen Felsrissen und zwischen Steinen. Dieses Klima saugt der Hahnenfuß auf und entwickelt daraus für sich eine geradezu tropische Wärme. Diese winzige Zone hoher Temperaturen nutzt der Gletscherhahnenfuß. Darum kann er auch an den abgekürzten Sommertagen zum Blühen kommen. Er ist ein Trotzdemblüher.

So wie Jesus auch. Er ist ja selbst ein Trotzdem-Blüher, ein Trotzdem-Liebender. Er flieht den Streit nicht. Und nicht den Hass. Und nicht die Krankheit. Und nicht den Tod. Blüht selbst am Kreuz noch und bittet um Vergebung für die, die ihn in den Tod getrieben haben. Dazu ist ein Trotzdem-Blüher im Namen Gottes, im Namen der Liebe fähig. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Aber ich soll wissen, dass diese Kraft in mir angelegt ist.

Die Botschaft ist: lieber Hahnenfuß statt Hasenfuß. Mir macht der Gletscherhahnenfuß Mut. Er tut das, was er kann. Und das tut er gut. So wie er will ich lieben. So will ich blühen. Mit dem Vertrauen, dass meine Kraft und meine Blüte das Klima verändern. Kaum in der ganzen Welt. Aber an meinem Ort. Da will ich eine schöne Blume sein. Die Herzen erwärmt.

Ein Impuls zum dritten Glaubensartikel:

Rose Ausländer: Gemeinsam

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir gemeinsam reisen

Mich berührt dieses Gedicht. Es erzählt mir von der Kostbarkeit des Lebens. Und es ist deshalb auch Mahnung. Wir reisen gemeinsam, liebe Freunde. Vergesst das nicht! Keiner lebt für sich allein. Was wir tun oder lassen, betrifft auch immer die anderen.

Dieses Gedicht verbindet sich auch mit meinen schönsten Kindheitserinnerungen.

Zu ihnen gehören wie von Erich Kästner beschrieben Ausflüge mit der Familie raus aus der Stadt aufs Land. Erdbeerplantagen plündern. Einen Knick mit prallen Holunderbeeren abernten. Himbeeren pflücken. Gemeinsam einen Tag verleben. Gemeinsam arbeiten. Gemeinsam die Ernte einfahren. Gemeinsam die Früchte kosten und die Süße des Lebens schmecken. Vergesst das nicht! Wir reisen gemeinsam. Ich glaube, dass Gott sich in dieses Gemeinsam hineinwebt, wie es im Hohelied Salomos heißt: eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei. Er ist wie der rote Faden, wie der Lebensnerv. Zwischen uns, die wir gemeinsam reisen.

Mit Gott gemeinsame Sache machen. Das finde ich verlockend. Das ist ein schöpferischer Akt. Da passiert was. Was Neues. Was Überraschendes.

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