Eugene Delacroix: Die Freiheit führt das Volk an
Hinführung
Die Freiheit führt das Volk. Es ist eines der Prunkstücke des Pariser Louvre. Wir betrachten heute ein Bild, das wie eine künstlerische Berichterstattung daher kommt. Es ist in seiner Zeit im wahrsten Sinne des Wortes brandaktuell. Wir schreiben das Jahr 1830. Im Herbst dieses Jahres hält Eugène Delacroix die Ereignisse der sogenannten drei „Ruhmreichen Tage“ der Julirevolution fest. Zu dieser Zeit ist Karl X. ist an der Macht. Frankreich geht es wirtschaftlich schlecht. Das Bürgertum und das Volk sind unzufrieden. Doch der König erträgt die Kritik der Abgeordneten nicht. Am 25. Juli 1830 verkündet er vier Erlasse, die unter anderem die Abgeordnetenkammer auflösen und die Presse zensieren sollen. Das löst einen Aufstand im Parlament und auf der Straße aus. Das Volk will nicht wieder hinter die bereits errungene Freiheit zurück. Barrikaden werden gebaut, auf den Straßen von Paris kommt es zu blutigen Kämpfen. Nach drei Tagen siegt am 28. Juli endlich das Volk, Karl X. dankt ab. Sein liberaler Nachfolger steht nun lange Jahre einer konstitutionellen Monarchie vor. Seine Machtbefugnis ist von der Verfassung festgelegt. Doch der blutige Aufstand und die tausenden von Opfern in beiden Lagern werden nicht so schnell vergessen.
1830 ist Eugène Delacroix 32 Jahre alt. Er wurde 1798 in Charenton am Stadtrand von Paris geboren. Eugène galt später als der Gebildetste unter den Künstlern in Paris. Er war ein vornehmer Herr, ein Weltmann, in jungen Jahren ein Dandy, ein immer geschätzter Gast in der Gesellschaft, der zu den exklusivsten Salons Zugang hatte.
Delacroix war im Grunde seines Herzens ein Anhänger der Monarchie. Doch muss er trotz der Brutalität der Straßenkämpfe zutiefst berührt von dem Freiheitsdrang des Volkes. Auf 2,60m mal 3,25m gibt er Zeugnis vom Aufstand. Er schreibt an seinen Bruder: „Ich bin ein modernes Motiv angegangen, eine Barrikade, und auch wenn ich nicht fürs Vaterland gesiegt habe, so habe ich zumindest für es gemalt. Das hat mich in gute Laune versetzt.“ Spötter behaupten, Delacroix habe dieses Motiv nur gewählt, um dem neuen König zu gefallen. Eine weibliche Verehrerin bedauert: „Er ist so charmant, schade, dass er so komische Bilder malt.“ Sie traf damit den Punkt.
Ein beliebter Außenseiter war Delacroix. Erst, als er bereits 59 ist, wird er bei seiner achten Kandidatur endlich doch in die Sektion der Bildenden Künste gewählt, wird als „Unsterblicher“ anerkannt. Als er 1863 begraben wurde, begleiteten vier Kompanien Nationalgarde den Sarg des Kommandeurs der Ehrenlegion. Aber das war nur eine Pflichtübung der Gesellschaft, äußerer Schein. In Wahrheit war Delacroix mit den Jahren immer einsamer geworden.
Sein Vermächtnis ist aber geblieben. „Die Freiheit führt das Volk an“ ist Ausdruck französischer Identität schlechthin. Vielleicht die Marseillaise unter den Bildern. Schauen wir uns dieses Bild an.
Bildbetrachtung
Von der Freiheit geführt, stürmt das Volk über die Barrikade und die Toten hinweg. Die Freiheit ist eine Symbolfigur, wie die Freiheitsstatue in New York. Sie erscheint als junge Frau aus dem Volk.
Sie ist antik gekleidet. Barfuß. Barbusig. Mit der einen Hand reckt sie die Trikolore hochreckt, die „dreifarbige“ Fahne. Rot und Blau, die Farben von Paris. Auf Weiß als die Königsfarbe hatten die nach der Revolution von 1798 die noch amtierenden Monarchen bestanden. In der anderen Hand hält sie ein Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett.
Sie trägt eine rote Mütze, die „bonnet phrygien“ oder auch „bonnet rouge“ genannt wird. Während der Französischen Revolution wurde sie von den Jakobinern als Ausdruck ihres politischen Bekenntnisses getragen. Die bonnet rouge wurde als Freiheitsmütze in Frankreich und ganz Europa zum Symbol demokratischer und republikanischer Gesinnung.
In Deutschland wurde sie als Kritik am revolutionsmüden Volk wieder aufgenommen. Allerdings als Schlafmütze. Ihr berühmtester Vertreter war hier schon mal zu Gast: Der arme Poet von Carl Spitzweg.
Rechts neben der machtvollen Frauengestalt schwingt ein kleiner Bursche zwei Pistolen, als ob er der Trommler wäre. Die Tragriemen der Pistolentasche, die er sich angeeignet hat, sind viel zu lang für ihn, sie schlenkert um seine Knie. Aber er ist mit Leib und Seele dabei, ein Schrei der Begeisterung kommt aus seinem offenen Mund.
Hauptfigur links vor der Masse des anstürmenden Volkes ist ein komplett gekleideter Bürger mit Halstuch und Zylinderhut. Er beteiligt sich in vorderster Reihe am Kampf. Halbkniend hat er eben geschossen und das Gewehr nun abgenommen schräg vor sich, die rechte Hand am Schloss, den Finger am Abzug; die linke umklammert Schaft und Lauf.
Links hinter ihm ein Mann, der aus der Werkstatt kommt, mit offenem Hemd und einem Lederschurz. Um sein Räuberzivil militärisch aufzuputzen, hat er als Riemen eine blauweißrote Schärpe um den Schurz gebunden und seine Pistole hineingesteckt. Dazu hat er sich die Patronentasche eines gefallenen Soldaten umgehängt, wie der Junge rechts; in der Hand schwingt er einen krummen Säbel.
Ganz am Bildrand liegt ein junger Bursche noch in Deckung hinter Steinen und Balken und blickt mit aufgerissenen Augen auf die Toten. Er hat sich den Helm eines Soldaten aufgesetzt und einen Säbel in der Hand.
Vor der Barrikade, die aus Pflastersteinen und Balken geschichtet ist, liegen tote Soldaten. Das Volk hat sie halb und ganz ausgeplündert, um die eigene Ausrüstung zu ergänzen.
Doch nicht nur Soldaten liegen als Opfer des Kampfs. Mühsam richtet sich ein Verwundeter auf – ist es eine junge Frau mit einem Kopftuch? – um die Freiheit und die Fahne zu sehen. Sie trägt die Farben der Tricolore.
Hinter diesen Figuren, die im Bild groß hervorgehoben sind, drängt im Pulverdampf die Masse nach. Man sieht geschwungene Säbel und Bajonette, Hüte und Helme, eine improvisierte Fahne. Ein Veteran hat den Helm aufgesetzt, den Napoleons Garde getragen hat. Man meint, Napoleon selbst marschiere mit.
Auf den schrägen Balken darunter hat Delacroix das Bild signiert und mit der Jahreszahl 1830 versehen.
Dass kein Zweifel bleibt, wo der Schauplatz ist, lichten sich am rechten Bildrand die Schwaden des Pulverdampfs. Man sieht die Wahrzeichen von Paris, die Türme von Notre-Dame hinter den hohen Häusern mit den Schieferdächern über der Seine.
Deutung und Rezeption
Das Bild ist zum Symbol der Geschichte Frankreichs geworden. Es zieht Menschen aus aller Welt in seinen Bann.
Ein Grund liegt in der Person des Malers. Eugène Delacroix war ein mutiger Künstler. Konventionen waren nicht sein Ding. Er malte nicht nur die Freiheit. Er war frei im Denken und in seiner Malweise. Sicher auch, weil er finanziell gut aufgestellt war. Er nimmt uns mitten hinein in die Revolte. Das Durcheinander verstärkt Delacroix durch die geschickte Wahl gedeckter Farbtöne. Der romantische Elan der Revolution greift nach Raum. Diese Dynamik, diese Aufbruchstimmung reißt mit.
Delacroix malt die Freiheit ganz realistisch. Als wenn sie wirklich in persona voranzieht. Die Freiheit ist eine starke, eine verführerische Frau aus Fleisch und Blut. Aber die kämpfende Schöne ist keine reale Person, sondern eine Allegorie, eine symbolische Figur. Sie hat ihre Bedeutung über diese Szene, über diese Zeit und diesen Ort hinaus. Sie ist allgemein gültig. Die Franzosen geben ihr den Namen „Marianne“. Sie ist den Franzosen, was den Deutschen ihr Michel ist. Seit der Französischen Revolution symbolisiert sie die Freiheit.
Marianne trägt Maria und Anna in sich. Die Begnadete und die Geliebte stecken in ihr genauso wie die Unzähmbare und die Bittere. Vielleicht ist mit diesem Namen die Freiheit ganz gut charakterisiert. Vielleicht ist die Namensgebung aber auch reiner Zufall, weil der Vorname Marianne zu Delacroix´ Zeit weit verbreitet war.
Die Franzosen sind jedenfalls unbändig stolz darauf, dass sie einmal revolutionär gewesen sind. Darum haben sie dieses Bild zu ihrer Ikone erhoben. Sie gehört ihnen, denn sie symbolisiert ihre beste Seite.
Und von diesem Bild ist es nicht weit zum Schlachtruf der Aufständischen. In den Tagen der Julirevolution kommt die Marseillaise wieder zu Ehren. Unter Karl X. war sie verboten, weil sie Inbegriff der Französischen Revolution war. Jetzt aber im Aufstand gegen den König wird sie wieder Bekenntnis zum Vaterland zugleich. Ihr Text ist martialisch:
Auf, Kinder des Vaterlands,
Der Tag des Ruhmes ist gekommen!
Gegen uns ist der Tyrannei
blutiges Banner erhoben.
Hört ihr auf den Feldern
Diese wilden Soldaten brüllen?
Sie kommen bis in eure Arme,
Um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden.
Zu den Waffen, Bürger,
Formiert eure Truppen,
Marschieren wir, marschieren wir!
Unreines Blut
Tränke unsere Furchen!
Heilige Liebe zum Vaterland,
Führe, stütze unsere rächenden Arme.
Freiheit, geliebte Freiheit,
Kämpfe mit Deinen Verteidigern
unter unseren Flaggen, damit der Sieg
den Klängen der kräftigen Männer zu Hilfe eilt,
damit Deine sterbenden Feinde
deinen Sieg und unseren Ruhm sehen!
Dass die erste Strophe auch heute noch mit Inbrunst gesungen wird, ist kaum vorstellbar, aber wahr. Die Marseillaise hat gerade in der Arbeiterbewegung Europas immer wieder Nachdichtungen erfahren. Alle Versionen rufen den Kampf gegen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen aus. Die Freiheit lässt sich nicht unterdrücken. Sie füttert die menschliche Sehnsucht unaufhörlich – bis sie sich einen Weg sucht. Dass dies auch ohne Blutvergießen geht, haben wir in Deutschland und im Osten Europas erfahren.
Auch andere Personen sind allegorisch gemeint. Der Mann mit dem Zylinder, der gern für Delacroix selber gehalten wird, steht er für den gebildeten Bürger. Der Mann mit der Baskenmütze verkörpert den Arbeitertyp. Der Person in blau-weiß-rot, die gerade zur Freiheit hochschaut, symbolisiert das leidende Volk. Und der revolutionäre Junge dort repräsentiert die Zukunft.
Dieser Pariser Junge beeindruckte den Dichter Victor Hugo so sehr, dass er daraus 30 Jahre später unter dem Namen Gavroche eine Hauptfigur seines monumentalen Werkes Les Misérables – Die Elenden machte.
Allegorie
Die Freiheit führt das Volk an. Sie ist so schön anzusehen im Bild. Und sie fühlt sich so gut an, wenn sie errungen ist. Meinungsfreiheit. Pressefreiheit. Religionsfreiheit. Reisefreiheit. Es ist gut, wenn diese Freiheit von Grund auf gesichert ist.
Die Freiheit führt das Volk an. Sie ist verführerisch. Sie verführt zu dem Irrglauben, dass kein Maß, kein Gesetz, kein Versprechen sie einschränken kann.
Die Freiheit führt das Volk an. Sie braucht Menschen, die sich von ihr ziehen lassen. Die so frei sind, dass sie den Elenden Stimme geben. Und Wege aus dem Elend heraus weisen.
Es braucht die Freiheitskämpfer. Es braucht Menschen, an denen sich die Elenden, die Benachteiligten, die Unfreien ausrichten können, zu denen sie aufschauen können. So charismatische Personen wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela halten den Traum wach, dass alle Menschen frei sein sollen. Sie haben das mit friedlichen Mitteln versucht. Und haben das mit Gefangenschaft und Leben bezahlt. Ein Dietrich Bonhoeffer hatte vor Beginn des 2. Weltkriegs geplant zu Gandhi nach Indien zu reisen, um von ihm gewaltfreien Widerstand zu lernen. Der beginnende Krieg verhinderte die Reise.
Die Freiheit in Delacroix´ Bild stürmt über Barrikaden. Nichts kann sie aufhalten. Auch nicht die Feinde der Freiheit. Sie geht buchstäblich über Leichen. In der Bibel findet sich Ähnliches.
Marc Chagall malt, wie Mose das Volk Israel durch das Rote Meer führt. Er hebt wie ein Anführer den Arm, wie die Marianne. Das Volk nah bei ihm steht im Licht. Hinten versinken die nachfolgenden Ägypter in den Fluten des Roten Meeres. Dieses Volk hat aber seine Probleme mit der Freiheit. Über die täglich gleiche Kost aus Manna und Wachteln murren sie. In Ägypten hätten sie es trotz Sklaverei besser gehabt. Und dann bekommen sie auch noch die Zehn Gebote als Richtlinien, damit keiner den anderen unterjocht. Die Gebote sichern die Freiheit. An diesem Freiheitsrahmen arbeiten wir uns bis heute täglich ab. Die Freiheit ist nicht sicher. Sie muss jeden Tag neu geschützt und neu errungen werden.
Die Freiheit führt das Volk an. Für die Christenmenschen zählt nicht die Julirevolution, sondern der Ostermorgen. Hans Holbein malt Christus mit Siegesfahne. Christ lag in Todesbanden. Aber diese Bande sind gelöst. Christus ist frei. Die Wachen haut es um. Sie liegen da wie tot. Andere ziehen unwirsch ab. Christus ist frei. Christus macht frei. Nicht der Buchstabe des Gesetzes ermöglicht die Freiheit. Sondern die Sicherheit, dass jedes menschliche Leben eines von Gottes Gnaden ist. Diese sogenannte Rechtfertigung ist der fruchtbare Boden, auf dem die Freiheit eines Christenmenschen wächst und zur Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich befähigt. Auf diesem Boden kann ein Christ um die Freiheit des Einzelnen ringen, damit die Freiheit des Volkes bewahrt bleibt. Ich kann meine eigene Freiheit nur bewahren, wenn ich die Freiheit der anderen suche. Damit das Leben eines Volkes blühe und sich die Menschen sonnen im Glanze ihres Glückes.
Lied: Evangelisches Gesangbuch 15, 1.2.4.6 Tröste, tröste, spricht der Herr
- »Tröstet, tröstet«, spricht der Herr,
»mein Volk, dass es nicht zage mehr.«
Der Sünde Last, des Todes Fron
nimmt von euch Christus, Gottes Sohn. - Freundlich, freundlich rede du
und sprich dem müden Volke zu:
»Die Qual ist um, der Knecht ist frei,
all Missetat vergeben sei.« - Sehet, sehet, alle Welt
die Herrlichkeit des Herrn erhellt.
Die Zeit ist hier, es schlägt die Stund,
geredet hat es Gottes Mund. - Hebe deine Stimme, sprich
mit Macht, dass niemand fürchte sich.
Es kommt der Herr, eu’r Gott ist da
und herrscht gewaltig fern und nah.
Vaterunser
Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Segen
Unser Gott,
segne dich und behüte dich,
er gebe dir Gedeihen und Wachstum,
Gelingen deinen Hoffnungen,
Frucht deiner Mühe,Unser Gott lasse leuchten
sein Angesicht über dir,
wie die Sonne über der Erde
wärme gibt allem Erstarrten
und Freude gibt dem Lebendigen,
Unser Gott sei dir gnädig uns mache dich frei,
wenn Schuld und Not dich binden.
Unser Gott erhebe
sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden,,
er heile dich und tröste dich in deinem Leid
er fördere das Wohl deines Leibes, das Heil deiner Seele,
Liebe und Glück. Amen. So will es Gott,
der von Ewigkeit zu Ewigkeit bleibt.