Blaue Geschichten vom Leben
Predigt anlässlich des 12. Fotogipfel Oberstdorf
Sonntag, 23. Juni 2024, Evang.-Luth. Christuskirche Oberstdorf
Das Leben ist nicht nur schön. Als ich am 24. Februar 2022 beim Frühstück saß, kam der Krieg in mein Leben. Weit weg zwar in der Ukraine. Aber in Europa. Vor der Haustür.
Und am 24. Februar 2022 war immernoch Corona. Beides, Krieg und Pandemie, sind in den Bildern von Kai Pfaffenbach zu sehen. Genauso wie ein Lionel Messi, der mit dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 seine Karriere krönte. Die Bilder von Kai Pfaffenbach stehen direkt vor dem Oberstdorf Haus. Schaut sie euch nach dem Gottesdienst mal an. Ist ja nur ein Katzensprung. Da seht ihr dann auch dieses Foto. Noch viel größer.
Warum denn ausgerechnet dieses Foto, um übers Leben zu reden? Hätte es nicht was Schönes sein können? Denkt ihr vielleicht. Und seid damit auch nicht allein. Der Fotogipfel und die Touristik mussten sich wegen der Bildauswahl schon Einiges anhören.
Ich bitte euch an diesem Morgen um einen Vertrauensvorschuss. Lasst euch auf dieses Bild ein und wir gehen miteinander einen Weg, auf dem wir entdecken, was Leben heißt.
Unser Foto ist mitten im ukrainischen Kriegsgebiet im Bachmut entstanden. In der Sperrzone, die für Journalisten nicht zugänglich ist. Zu ihrem eigenen Schutz. Kai Pfaffenbach durfte mit Sondergenehmigung mitziehen. Er kam in ein Dorf, in dem nur noch ein kleiner Rest der Bevölkerung ausharrte. Weil sie nicht gehen konnten oder wollten. An diesem Tag begegnete Kai Pfaffenbach diesem Mann. Das Gesicht ist voll getrockneten Drecks. Von der Stirn bis in den Bart. Denke ich mir den Dreck weg, dann ist es ein grauer oder blonder Vollbart. Von den Haaren sind nur ein paar wenige Strähnen zu erkennen. Der ganze Kopf ist umgeben von schwerem Stoff. Unten ein Kinnschutz. Am Kopf drei Schichten. Mütze. Oder vielleicht auch das Futter des Helms. Darüber nochmal eine Kapuze.
Licht scheint auf sein Gesicht. Aus dem leuchten die blauen Augen des Mannes heraus. Ich habe lange gebraucht, um für mich diesen Blick deuten zu können. Er ist nicht eindeutig. Und das liegt daran, dass er mit jedem Auge anders schaut. Echt. Das gibt´s. Wusste ich bisher auch nicht. Haltet mal das linke Auge auf dem Bild zu. Das rechte Auge schaut ernst. Haltet das rechte Auge zu. Dann seht ihr das linke, das zuversichtlich wirkt. Nahe dran an einem Schmunzeln. Kai Pfaffenbach erlebt diesen Mann, diesen ukrainischen Soldaten, zwar erschöpft. Aber nicht gebrochen. Unaufgeregt war er. Er tat, was man in Kriegszeiten tun muss. Nicht mehr, nicht weniger.
Ein Augenpaar hat Kai Pfaffenbach eingefangen. Der Fotograf selbst versteht sich als Auge. Für all diejenigen, die bestimmte Dinge nie live zu Gesicht bekommen. Aus der ersten Reihe zu berichten ist und bleibt seine große Leidenschaft.
Was wir nicht sehen, ist das ganze Bild, das Pfaffenbach für die Agentur Reuters gemacht hat. Der Mann auf dem Bild ist Kommandant und kommt mit einigen Soldaten zurück vom Feld. Nicht mit allen, die einst losgefahren sind. Von denen, die nicht mehr zurückkommen, liegen nur ihre Waffen auf dem Fahrzeug. Und dann können wir nicht anders als fragen, was von einem Menschen, was von dir und mir bleibt. Egal in welchem Land. Zu welcher Zeit. In welchem Alter. Was bleibt? Unter diesem Titel sind die Fotos von Kai Pfaffenbach ausgestellt.
Kai Pfaffenbach präsentiert uns ein Leben – ungeschminkt. Wirklich ungeschminkt. Dieses Foto wirft mich zurück auf den Ursprung des menschlichen Lebens. Es ist so archaisch. Die Bibel erzählt in ihrem zweiten Schöpfungsbericht von der Entstehung des Menschen.
Lesung: 1. Mose 2, 4 – 7 (Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)
Dies ist die Geschichte der Kinder von Himmel und Erde, seit diese erschaffen wurden:
Am Tag, als Gott Erde und Himmel machte, gab es noch keine Sträucher des Feldes auf der Erde und das Grün der Felder war noch nicht aufgesprossen. Denn Gott hatte es noch nicht regnen lassen auf die Erde. Und es gab noch keine Menschen, um den Acker zu bearbeiten, nur ein Quell stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackers.
Da bildete Gott Adam, das heißt Mensch, aus der Erde vom Acker und blies in seine Nase Lebensatem. Da wurde der Mensch atmendes Leben.
Und Gott nahm den Menschen und brachte ihn in den Garten Eden, ihn zu bearbeiten und zu beaufsichtigen.
Ihr wisst alle, wie die Geschichte weitergeht. Dass Gott Tiere erschaffen hat, damit dieser eine Mensch nicht allein bleibt. Fürs Alleinsein ist der Mensch nicht geschaffen. Unter den Tieren fand sich keine Hilfe, die für den Mensch ein angemessenes Gegenüber sein konnte. Legendär darum, wie erzählt wird, dass Gott den Menschen in einen Tiefschlaf versetzt, damit er aus ihm seine weiblichen Anteile herausarbeiten konnte.
Aber so war es ja nicht. Weder die Erschaffung des ersten Menschen noch die des zweiten Menschen in weiblicher Gestalt. Die Geschichte diente den Alten damals, um sich zu erklären, warum es den Menschen in verschiedener Gestalt gibt. Und das mussten sie in ihr bäuerliches Weltbild einbauen. Und über allem steht das Lob für den Schöpfergott, der alles geschaffen hat.
Diese Geschichte eignet sich nicht, den verschiedenen Ausführungen des Menschen eine Rangordnung zu verpassen. Das geschieht bis auf den heutigen Tag und ist Männer- und Frauenköpfen nicht wegzukriegen. Nur der Schöpfungsgeschichte wird das nicht gerecht. Denn die sagt: Ein Mensch ist ein Mensch. Ein Mensch lebt sich nicht selber. Er empfängt das Leben. Wird am Anfang für ein ganzes Leben von Gott beatmet. Um das Feld, also sein Lebensspielfeld zu bearbeiten und zu beaufsichtigen. Mann und Frau haben eine Aufgabe für jedes Geschöpf und für den Acker selbst, der sich Erde nennt. Du und ich haben Weggefährt*innen, weil es nicht gut ist, dass der Mensch allein ist. Pflanzen und Tiere tun uns gut. Lässt sich in dieser Gegend leicht unterschreiben. Andere Menschen tun mir gut. Und ich ihnen hoffentlich auch.
Einander gut tun, funktioniert, wenn wir das merken und verstehen und einander zugestehen: wir alle haben nur den einen Lebensatem empfangen. Wie auch immer wir die atemspendende Kraft nennen? Wer hat dann das Recht, den Atem zu nehmen?
Einander gut tun, funktioniert, wenn wir es in Herz und Sinn bekommen, was Albert Schweitzer mal gesagt hat. Ist nicht neu. Aber so richtig. „Jedes Leben ist Leben inmitten von Leben, das leben will.“ Das glaube ich. Es ist mir wie ein Mantra, dass ich mir immer wieder sage. Denn es macht mich achtsam im Umgang mit Tieren und Pflanzen. Und mit meinen Mitmenschen. Ich achte ihre einzigartige Würde.
Die Würde ist schon lange antastbar geworden. Dass sie unantastbar ist, steht zwar in unserem Grundgesetz. Aber das sind nur Worte. Sie müssen geatmet, sie müssen gelebt werden. Und jeden Tag aufs Neue muss diese Würde errungen werden. Denn wie schwer es ist, die Würde eines Menschen bis in den Tod zu wahren, haben wir in der Coronazeit schmerzlich erfahren. Sterbende wie Angehörige.
Und die Kriegstreiber wollen von Würde nichts wissen, außer ihrer eigenen. Und auch die wollen von der Würde eines jeden Menschen nichts wissen, die geschichtsvergessen das Feld so bereiten wie vor 90 Jahren. Sie werden keine blühenden Landschaften bebauen, sondern für verbrannte Erde sorgen. Es ist an uns, mit unserem Atem, der freilich ein langer Atem sein muss, gerade den jungen Menschen die Geschichte zu verdolmetschen. Ihnen zu sagen, was für ein Unheil sie anrichten, wenn sie blau wählen.
Ich wähle auch blau. Aber nicht auf dem Stimmzettel. Ich wähle das Blau in den Augen des ukrainischen Soldaten. Sie leuchten. Durch den Dreck hindurch. Diese Augen sind so ein krasser Gegensatz zum verbrannten Feld, den zerstörten Dörfern, zum Schmerz um gefallene Kameraden. Sie leuchten weiter und weiter, weil dem Soldaten immernoch Atem des Lebens innewohnt.
Der Kurator des Fotogipfels Christian Popkes hat zu mir gesagt, dieses Foto wäre wie eine Ikone. Recht hat er. Eine Ikone. Ikone heißt einfach Bild. Abbild. Was ich mit meinen Augen sehe, lässt eine andere Wirklichkeit, eine andere Wahrheit durchscheinen. So ist das mit diesem Bild. Es scheint blau hindurch. Wie gemalt. Wie bei Marc Chagall. Dem leidgeprüften Hiob gab der französische Maler immer einen Tupfer grün ins Auge als Zeichen dafür, dass die Hoffnung auf ein gutes Leben immernoch in ihm lebt.
Und hier ist das Blau wach. Blau wie der Himmel. In diesem Gesicht vereinen sich buchstäblich Erde und Himmel. Und der Soldat hat den Himmel im Blick. Grandios. Und kein bisschen kitschig. Denn wie ihr schon gesehen habt: das eine Auge ernst, weil es darum weiß, wie schnell wir des Himmels auf Erden verlustig werden. Das andere voll Zuversicht, Aussicht auf eine Feuerpause, das Ende des Sterbens, ja und auch mal wieder Frieden. Die Liebe in den Arm nehmen. Familie wieder sehen. Angstfrei unter offenem Himmel leben. Das Land aufräumen und neu bebauen. Alles auf Anfang.
Eine Ikone. Für den Menschen. Diesen Menschen. Er ist Abbild. Ebenbild Gottes. Es trägt den Himmel in sich. Das ist seine göttliche Würde.
Eine Ikone. Für Gott. Durch diesen einen Menschen scheint der Himmlische, der keine Grenzen kennt. Nicht von Ländern. Nicht mit seiner Liebe. Nicht mit seinen Verheißungen. Ich stelle mir vor, diese spricht aus den blauen Augen: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.“ (Jesaja 43, 18+19) Und weil es zwei Augen sind, spricht auch noch diese Verheißung heraus: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.“ (Jesaja 65, 17+18)
Ach, wenn es uns gelänge, mit blauen Augen zu leben. Den Himmel im Blick. Dann würden wir unserer himmlisch göttlichen Würde gerecht werden. Dann würde der Himmel sich auf die Erde legen und alles ist gut. Wir könnten es tun. Aber es gibt so viele Gründe, Ausreden, Schweinehunde, Menschen bösen Willens, Hasenfüße, Kleingeister, Neider und Höllenhunde, die den Himmel zerrupfen. Und dennoch bleiben Gottes Verheißungen bestehen, weil der Mensch das einzige Geschöpf ist, dass frei über sein Handeln entscheiden kann. Der Mensch hat die Kraft zum Guten und Bösen. Wenn er wollte, könnte er also immer gut handeln und alles wäre gut. Ich will euch davon eine Geschichte erzählen. Die steht auch in der Bibel.
Es ist die Geschichte von zwei Männern. Sie ringen um die Macht. Und wenn es sein muss, erkämpfen sie sich ihre Macht. Der eine Saul. König von Israel. Der andere David. Harfenspieler, Seelentröster des Königs, Goliathbesieger, everybodys darling. Man sagt, David hätte es auf Sauls Thron abgesehen. Saul fürchtet sich so sehr, dass er sich mit Gefolge ummannt. Auch David schart seinen Getreuen um sich. Sicher ist sicher. Wer weiß, wozu Saul fähig ist.
Da treffen beide Lager aufeinander. Saul und seine Leute kommen an eine Höhle. Und wissen nicht, dass David mit seinen Mannen darinnen hockt. „David, worauf wartest du, das ist dein Moment, jetzt kannst Saul töten und du bist König von Israel.“, feuern ihn die Seinen an. Doch David macht keine Anstalten Saul zu töten. Er schneidet einen Zipfel von Sauls Gewand ab. Eine heimliche Trophäe. Und seinen Leuten gebietet er Einhalt. Sie sollen keine Hand an Saul legen.
Saul, nichtsahnend, was sich in seinem Rücken abgespielt hatte, zieht weiter. Und David ihm nach. Sucht mutig die Begegnung. Wirft sich vor Saul, seinem König auf die Knie. Und fragt ihn: Wer hat dir eigentlich den Blödsinn erzählt, dass ich nach deinem Leben trachte. Fakenews. Schau hier: in meinen Händen liegt dein Leben. Und Saul erblickt das Stückchen Stoff seines Gewandes, das David abgeschnitten hatte. Das rührt Saul zu Tränen. Du zeigst mir gerade, was du mir Gutes getan hast. Du hättest mich töten können, aber hast mit mich leben gelassen. Wo ist solch ein Mensch? Gott vergelte dir Gutes, was du heute an mir getan hast!
Das ist eine blaue Geschichte. Eine Himmelsgeschichte. Eine Geschichte von der himmlischen Würde des Menschen. Er könnte töten, aber tut´s nicht. Er könnte Böses tun, aber er tut´s nicht. Er könnte nach der Macht streben, aber er tut´s nicht. Er könnte sich dem Feuer seiner Anhänger hingeben, aber er tut´s nicht.
Es ist eine blaue Geschichte. Eine Geschichte von einer Haltung, die die Bibel mit einem sehr alten Wort auch Gnade nennt. Es ist die Geschichte von einer himmelweiten Liebe, die darum weiß, dass nichts gewonnen ist, wenn ein anderer verliert. Diese Liebe weiß darum, dass sie ärmer wird, wenn sie anderem Leben seinen Atem nimmt. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Es ist auch nicht gut, dass der Mensch alles tut, was er kann. Und es ist auch nicht gut, dass der Mensch alles umsetzt, was er weiß.
Gnade ist das Blau meines Glaubens. Hat die Kraft, durch jeden Dreck zu leuchten. Braucht den Mut, der sie in diese schöne und verletzte Erde atmet.
Für ein Leben, dass sich an die Gnade hält, gibt es keine Probe. Dieses Leben ist mein einziger, bester Versuch. Immer live. Ungeschnitten. Löschen geht nicht von dem, was ich nicht hinbekommen habe. Das Leben ist so, ich bin so. Mit all den Pannen, mit all den Nocheinmals. Mit all dem Suchen, wo es langgeht. Mit dem kaum auszuhaltenden Nebeneinander von Wohl und Wehe, das einen fertig machen kann. Ich sitze beim Frühstück, bei Ei und Müsli, Croissants und manchmal Himbeereis. Und woanders ist Krieg. Ich lebe und woanders wird gestorben. Ich erlebe den Gipfel und woanders bricht eine Welt zusammen. Ich kann und ich muss nicht die ganze Welt retten. Aber das bisschen, was ich machen kann, will ich mir so schön, wie möglich machen. Und ich glaube: Gnade macht schön. Macht dieses Leben schön.
Die schönen Augen des Soldaten blicken übrigens an dem Tag in die Kamera von Kai Pfaffenbach, an dem die orthodoxe Kirche ihr Osterfest feiert. Christus ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Leben ist möglich. Trotz dem Tod. Gnade ist möglich trotz allem Bösen.
Ich finde solch ein Leben lebenswert: Den Himmel im Blick haben. Einander schöne Augen machen. Und blaue Geschichten von der Gnade erzählen. So soll es sein. So soll es werden. Amen.
Roland Sievers
Das Leben
ist nicht nur schön. Als ich am 24. Februar 2022 beim Frühstück saß, kam der
Krieg in mein Leben. Weit weg zwar in der Ukraine. Aber in Europa. Vor der
Haustür.
Und am 24. Februar 2022 war
immernoch Corona. Beides, Krieg und Pandemie, sind in den Bildern von Kai
Pfaffenbach zu sehen. Genauso wie ein Lionel Messi, der mit dem Gewinn der
Fußball-Weltmeisterschaft 2022 seine Karriere krönte. Die Bilder von Kai
Pfaffenbach stehen direkt vor dem Oberstdorf Haus. Schaut sie euch nach dem
Gottesdienst mal an. Ist ja nur ein Katzensprung. Da seht ihr dann auch dieses
Foto. Noch viel größer.
Warum denn ausgerechnet dieses
Foto, um übers Leben zu reden? Hätte es nicht was Schönes sein können? Denkt
ihr vielleicht. Und seid damit auch nicht allein. Der Fotogipfel und die
Touristik mussten sich wegen der Bildauswahl schon Einiges anhören.
Ich bitte euch an diesem Morgen um einen Vertrauensvorschuss. Lasst euch auf
dieses Bild ein und wir gehen miteinander einen Weg, auf dem wir entdecken, was
Leben heißt.
Unser Foto ist mitten im
ukrainischen Kriegsgebiet im Bachmut entstanden. In der Sperrzone, die für
Journalisten nicht zugänglich ist. Zu ihrem eigenen Schutz. Kai Pfaffenbach
durfte mit Sondergenehmigung mitziehen. Er kam in ein Dorf, in dem nur noch ein
kleiner Rest der Bevölkerung ausharrte. Weil sie nicht gehen konnten oder
wollten. An diesem Tag begegnete Kai Pfaffenbach diesem Mann. Das Gesicht ist
voll getrockneten Drecks. Von der Stirn bis in den Bart. Denke ich mir den
Dreck weg, dann ist es ein grauer oder blonder Vollbart. Von den Haaren sind
nur ein paar wenige Strähnen zu erkennen. Der ganze Kopf ist umgeben von
schwerem Stoff. Unten ein Kinnschutz. Am Kopf drei Schichten. Mütze. Oder
vielleicht auch das Futter des Helms. Darüber nochmal eine Kapuze.
Licht scheint auf sein Gesicht. Aus dem leuchten die blauen Augen des Mannes
heraus. Ich habe lange gebraucht, um für mich diesen Blick deuten zu können. Er
ist nicht eindeutig. Und das liegt daran, dass er mit jedem Auge anders schaut.
Echt. Das gibt´s. Wusste ich bisher auch nicht. Haltet mal das linke Auge auf
dem Bild zu. Das rechte Auge schaut ernst. Haltet das rechte Auge zu. Dann seht
ihr das linke, das zuversichtlich wirkt. Nahe dran an einem Schmunzeln. Kai
Pfaffenbach erlebt diesen Mann, diesen ukrainischen Soldaten, zwar erschöpft.
Aber nicht gebrochen. Unaufgeregt war er. Er tat, was man in Kriegszeiten tun
muss. Nicht mehr, nicht weniger.
Ein Augenpaar hat Kai Pfaffenbach
eingefangen. Der Fotograf selbst versteht sich als Auge. Für all diejenigen,
die bestimmte Dinge nie live zu Gesicht bekommen. Aus der ersten Reihe zu
berichten ist und bleibt seine große Leidenschaft.
Was wir nicht sehen, ist das ganze
Bild, das Pfaffenbach für die Agentur Reuters gemacht hat. Der Mann auf dem
Bild ist Kommandant und kommt mit einigen Soldaten zurück vom Feld. Nicht mit
allen, die einst losgefahren sind. Von denen, die nicht mehr zurückkommen,
liegen nur ihre Waffen auf dem Fahrzeug. Und dann können wir nicht anders als
fragen, was von einem Menschen, was von dir und mir bleibt. Egal in welchem
Land. Zu welcher Zeit. In welchem Alter. Was bleibt? Unter diesem Titel sind
die Fotos von Kai Pfaffenbach ausgestellt.
Kai Pfaffenbach präsentiert uns ein
Leben – ungeschminkt. Wirklich ungeschminkt. Dieses Foto wirft mich zurück auf
den Ursprung des menschlichen Lebens. Es ist so archaisch. Die Bibel erzählt in
ihrem zweiten Schöpfungsbericht von der Entstehung des Menschen.
Lesung: 1. Mose 2, 4 – 7 (Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache)
Dies ist die Geschichte der Kinder von Himmel und Erde, seit diese
erschaffen wurden:
Am Tag, als Gott Erde und Himmel machte, gab es noch keine Sträucher des
Feldes auf der Erde und das Grün der Felder war noch nicht aufgesprossen. Denn
Gott hatte es noch nicht regnen lassen auf die Erde. Und es gab noch keine
Menschen, um den Acker zu bearbeiten, nur ein Quell stieg aus der Erde auf und
tränkte die ganze Fläche des Ackers.
Da bildete Gott Adam, das heißt Mensch, aus der Erde vom Acker und blies
in seine Nase Lebensatem. Da wurde der Mensch atmendes Leben.
Und Gott nahm den Menschen und brachte ihn in den Garten Eden, ihn zu
bearbeiten und zu beaufsichtigen.
Ihr wisst alle, wie die Geschichte
weitergeht. Dass Gott Tiere erschaffen hat, damit dieser eine Mensch nicht
allein bleibt. Fürs Alleinsein ist der Mensch nicht geschaffen. Unter den
Tieren fand sich keine Hilfe, die für den Mensch ein angemessenes Gegenüber
sein konnte. Legendär darum, wie erzählt wird, dass Gott den Menschen in einen
Tiefschlaf versetzt, damit er aus ihm seine weiblichen Anteile herausarbeiten
konnte.
Aber so war es ja nicht. Weder die
Erschaffung des ersten Menschen noch die des zweiten Menschen in weiblicher
Gestalt. Die Geschichte diente den Alten damals, um sich zu erklären, warum es
den Menschen in verschiedener Gestalt gibt. Und das mussten sie in ihr
bäuerliches Weltbild einbauen. Und über allem steht das Lob für den
Schöpfergott, der alles geschaffen hat.
Diese Geschichte eignet sich nicht,
den verschiedenen Ausführungen des Menschen eine Rangordnung zu verpassen. Das
geschieht bis auf den heutigen Tag und ist Männer- und Frauenköpfen nicht
wegzukriegen. Nur der Schöpfungsgeschichte wird das nicht gerecht. Denn die
sagt: Ein Mensch ist ein Mensch. Ein Mensch lebt sich nicht selber. Er empfängt
das Leben. Wird am Anfang für ein ganzes Leben von Gott beatmet. Um das Feld,
also sein Lebensspielfeld zu bearbeiten und zu beaufsichtigen. Mann und Frau
haben eine Aufgabe für jedes Geschöpf und für den Acker selbst, der sich Erde
nennt. Du und ich haben Weggefährt*innen, weil es nicht gut ist, dass der
Mensch allein ist. Pflanzen und Tiere tun uns gut. Lässt sich in dieser Gegend
leicht unterschreiben. Andere Menschen tun mir gut. Und ich ihnen hoffentlich
auch.
Einander gut tun, funktioniert,
wenn wir das merken und verstehen und einander zugestehen: wir alle haben nur
den einen Lebensatem empfangen. Wie auch immer wir die atemspendende Kraft
nennen? Wer hat dann das Recht, den Atem zu nehmen?
Einander gut tun, funktioniert,
wenn wir es in Herz und Sinn bekommen, was Albert Schweitzer mal gesagt hat.
Ist nicht neu. Aber so richtig. „Jedes Leben ist Leben inmitten von Leben, das
leben will.“ Das glaube ich. Es ist mir wie ein Mantra, dass ich mir immer
wieder sage. Denn es macht mich achtsam im Umgang mit Tieren und Pflanzen. Und
mit meinen Mitmenschen. Ich achte ihre einzigartige Würde.
Die Würde ist schon lange antastbar
geworden. Dass sie unantastbar ist, steht zwar in unserem Grundgesetz. Aber das
sind nur Worte. Sie müssen geatmet, sie müssen gelebt werden. Und jeden Tag
aufs Neue muss diese Würde errungen werden. Denn wie schwer es ist, die Würde
eines Menschen bis in den Tod zu wahren, haben wir in der Coronazeit
schmerzlich erfahren. Sterbende wie Angehörige.
Und die Kriegstreiber wollen von
Würde nichts wissen, außer ihrer eigenen. Und auch die wollen von der Würde
eines jeden Menschen nichts wissen, die geschichtsvergessen das Feld so
bereiten wie vor 90 Jahren. Sie werden keine blühenden Landschaften bebauen,
sondern für verbrannte Erde sorgen. Es ist an uns, mit unserem Atem, der
freilich ein langer Atem sein muss, gerade den jungen Menschen die Geschichte
zu verdolmetschen. Ihnen zu sagen, was für ein Unheil sie anrichten, wenn sie
blau wählen.
Ich wähle auch blau. Aber nicht auf
dem Stimmzettel. Ich wähle das Blau in den Augen des ukrainischen Soldaten. Sie
leuchten. Durch den Dreck hindurch. Diese Augen sind so ein krasser Gegensatz
zum verbrannten Feld, den zerstörten Dörfern, zum Schmerz um gefallene
Kameraden. Sie leuchten weiter und weiter, weil dem Soldaten immernoch Atem des
Lebens innewohnt.
Der Kurator des Fotogipfels
Christian Popkes hat zu mir gesagt, dieses Foto wäre wie eine Ikone. Recht hat
er. Eine Ikone. Ikone heißt einfach Bild. Abbild. Was ich mit meinen Augen
sehe, lässt eine andere Wirklichkeit, eine andere Wahrheit durchscheinen. So
ist das mit diesem Bild. Es scheint blau hindurch. Wie gemalt. Wie bei Marc
Chagall. Dem leidgeprüften Hiob gab der französische Maler immer einen Tupfer
grün ins Auge als Zeichen dafür, dass die Hoffnung auf ein gutes Leben
immernoch in ihm lebt.
Und hier ist das Blau wach. Blau wie der Himmel. In diesem Gesicht vereinen
sich buchstäblich Erde und Himmel. Und der Soldat hat den Himmel im Blick.
Grandios. Und kein bisschen kitschig. Denn wie ihr schon gesehen habt: das eine
Auge ernst, weil es darum weiß, wie schnell wir des Himmels auf Erden verlustig
werden. Das andere voll Zuversicht, Aussicht auf eine Feuerpause, das Ende des
Sterbens, ja und auch mal wieder Frieden. Die Liebe in den Arm nehmen. Familie
wieder sehen. Angstfrei unter offenem Himmel leben. Das Land aufräumen und neu
bebauen. Alles auf Anfang.
Eine Ikone. Für den Menschen.
Diesen Menschen. Er ist Abbild. Ebenbild Gottes. Es trägt den Himmel in sich.
Das ist seine göttliche Würde.
Eine Ikone. Für Gott. Durch diesen
einen Menschen scheint der Himmlische, der keine Grenzen kennt. Nicht von
Ländern. Nicht mit seiner Liebe. Nicht mit seinen Verheißungen. Ich stelle mir
vor, diese spricht aus den blauen Augen: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet
nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es
auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und
Wasserströme in der Einöde.“ (Jesaja 43, 18+19) Und weil es zwei Augen sind,
spricht auch noch diese Verheißung heraus: „Denn siehe, ich will einen neuen
Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken
und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich
immerdar über das, was ich schaffe.“ (Jesaja 65, 17+18)
Ach, wenn es uns gelänge, mit
blauen Augen zu leben. Den Himmel im Blick. Dann würden wir unserer himmlisch
göttlichen Würde gerecht werden. Dann würde der Himmel sich auf die Erde legen
und alles ist gut. Wir könnten es tun. Aber es gibt so viele Gründe, Ausreden,
Schweinehunde, Menschen bösen Willens, Hasenfüße, Kleingeister, Neider und
Höllenhunde, die den Himmel zerrupfen. Und dennoch bleiben Gottes Verheißungen
bestehen, weil der Mensch das einzige Geschöpf ist, dass frei über sein Handeln
entscheiden kann. Der Mensch hat die Kraft zum Guten und Bösen. Wenn er wollte,
könnte er also immer gut handeln und alles wäre gut. Ich will euch davon eine
Geschichte erzählen. Die steht auch in der Bibel.
Es ist die Geschichte von zwei
Männern. Sie ringen um die Macht. Und wenn es sein muss, erkämpfen sie sich
ihre Macht. Der eine Saul. König von Israel. Der andere David. Harfenspieler,
Seelentröster des Königs, Goliathbesieger, everybodys darling. Man sagt, David
hätte es auf Sauls Thron abgesehen. Saul fürchtet sich so sehr, dass er sich
mit Gefolge ummannt. Auch David schart seinen Getreuen um sich. Sicher ist
sicher. Wer weiß, wozu Saul fähig ist.
Da treffen beide Lager aufeinander.
Saul und seine Leute kommen an eine Höhle. Und wissen nicht, dass David mit
seinen Mannen darinnen hockt. „David, worauf wartest du, das ist dein Moment,
jetzt kannst Saul töten und du bist König von Israel.“, feuern ihn die Seinen
an. Doch David macht keine Anstalten Saul zu töten. Er schneidet einen Zipfel
von Sauls Gewand ab. Eine heimliche Trophäe. Und seinen Leuten gebietet er
Einhalt. Sie sollen keine Hand an Saul legen.
Saul, nichtsahnend, was sich in
seinem Rücken abgespielt hatte, zieht weiter. Und David ihm nach. Sucht mutig
die Begegnung. Wirft sich vor Saul, seinem König auf die Knie. Und fragt ihn:
Wer hat dir eigentlich den Blödsinn erzählt, dass ich nach deinem Leben
trachte. Fakenews. Schau hier: in meinen Händen liegt dein Leben. Und Saul
erblickt das Stückchen Stoff seines Gewandes, das David abgeschnitten hatte.
Das rührt Saul zu Tränen. Du zeigst mir gerade, was du mir Gutes getan hast. Du
hättest mich töten können, aber hast mit mich leben gelassen. Wo ist solch ein
Mensch? Gott vergelte dir Gutes, was du heute an mir getan
hast!
Das ist eine blaue Geschichte. Eine
Himmelsgeschichte. Eine Geschichte von der himmlischen Würde des Menschen. Er
könnte töten, aber tut´s nicht. Er könnte Böses tun, aber er tut´s nicht. Er
könnte nach der Macht streben, aber er tut´s nicht. Er könnte sich dem Feuer
seiner Anhänger hingeben, aber er tut´s nicht.
Es ist eine blaue Geschichte. Eine
Geschichte von einer Haltung, die die Bibel mit einem sehr alten Wort auch
Gnade nennt. Es ist die Geschichte von einer himmelweiten Liebe, die darum
weiß, dass nichts gewonnen ist, wenn ein anderer verliert. Diese Liebe weiß
darum, dass sie ärmer wird, wenn sie anderem Leben seinen Atem nimmt. Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein ist. Es ist auch nicht gut, dass der Mensch
alles tut, was er kann. Und es ist auch nicht gut, dass der Mensch alles
umsetzt, was er weiß.
Gnade ist das Blau meines Glaubens.
Hat die Kraft, durch jeden Dreck zu leuchten. Braucht den Mut, der sie in diese
schöne und verletzte Erde atmet.
Für ein Leben, dass sich an die Gnade hält, gibt es keine Probe. Dieses Leben
ist mein einziger, bester Versuch. Immer live. Ungeschnitten. Löschen geht
nicht von dem, was ich nicht hinbekommen habe. Das Leben ist so, ich bin so.
Mit all den Pannen, mit all den Nocheinmals. Mit all dem Suchen, wo es
langgeht. Mit dem kaum auszuhaltenden Nebeneinander von Wohl und Wehe, das
einen fertig machen kann. Ich sitze beim Frühstück, bei Ei und Müsli,
Croissants und manchmal Himbeereis. Und woanders ist Krieg. Ich lebe und
woanders wird gestorben. Ich erlebe den Gipfel und woanders bricht eine Welt
zusammen. Ich kann und ich muss nicht die ganze Welt retten. Aber das bisschen,
was ich machen kann, will ich mir so schön, wie möglich machen. Und ich glaube:
Gnade macht schön. Macht dieses Leben schön.
Die schönen Augen des Soldaten
blicken übrigens an dem Tag in die Kamera von Kai Pfaffenbach, an dem die
orthodoxe Kirche ihr Osterfest feiert. Christus ist auferstanden. Er ist
wahrhaftig auferstanden. Leben ist möglich. Trotz dem Tod. Gnade ist möglich
trotz allem Bösen.
Ich finde solch ein Leben
lebenswert: Den Himmel im Blick haben. Einander schöne Augen machen. Und blaue
Geschichten von der Gnade erzählen. So soll es sein. So soll es werden. Amen.