Achim

Achim

Achim ist zum Umfallen müde. Schon lange schläft er nicht mehr gut. Manchmal liegt er in der Nacht stundenlang wach. Er gibt sich dem einen Gedanken hin, dann einem anderen. Er sucht neue Gedanken, um vor lauter Suchen und Denken dann doch in den Schlaf zu fallen. Und wenn nicht, dann weiß er schon am Morgen: das wird ein Tag zum Vergessen.

Solch ein Tag ist heute. Ganz schlecht ist das. Denn heute ist er vorgeladen. Die Arbeitsagentur für Engel hat ihn herbeizitiert. Der Chef für den irdischen Außendienst persönlich lässt bitten. Achim ist nicht wohl. Aufgeregt sitzt er im Gang. In seinem Schalensitz rutscht er hin und her. Seine Hände kalt und feucht. Die Hitze steigt ihm ins Gesicht. So wird er gleich keine gute Figur abgeben. Und das beim Chef. Mein Gott.

Es ist, wie es ist. Da muss er jetzt durch. Pünktlich auf die Sekunde erscheint am Ende des Ganges ein Jüngling in weißem Gewand. „Novize“, denkt sich Achim. „Wie ich die dick habe. Am Anfang der Karriere gleich zu Füßen des Chefs beginnen. Gleich in Stellung bringen an der Karriereleiter. Die sind immer so anstrengend. So beflissen, als seien sie Chef persönlich, dabei sind sie nur…“ Weiter kommt Achim nicht. Vor ihm steht der Jüngling. Mustert ihn. Schüttelt den Kopf. Murmelt etwas wie „Was sich der Chef dabei gedacht hat. Püh… er muss es ja wissen. Nicht meine Verantwortung.“

„Wie meinen?“, fragt Achim.

„Ähm, nichts, nur…“ Der Jüngling macht eine kurze Pause. Schüttelt wieder den Kopf. Und meint: „Und Sie sind Achim? Achim Freudenreich? Um ehrlich zu sein: Sie schauen nicht so aus! Aber wenn der Chef meint… Also kommen Sie mit, wir haben einen Auftrag für Sie.“

Dann dreht sich der Novize um und geht zackig in Richtung Chefbüro. Achim braucht ein wenig, um sich aus seinem Sitz zu schälen und sich halbwegs tageslichttauglich zu präsentieren. „Was ist Freudenreich! Glauben Sie, wir haben ewig Zeit?“, schallt es durch den Gang, gefolgt von einem höhnischen Gelächter.

Der Novize erwartet ihn an der Tür zum Chef und kündigt Achim an. Da erschallt schon von Weitem ein „Freudenreich, treten Sie ein.“ Zu sehen ist niemand. „Freudenreich, wie gut, dass Sie da sind, wir brauchen Sie!“ Erst jetzt sieht Achim den Qualm einer Zigarre hinter der hohen Rückenlehne des Chefsessels aufsteigen. „Sind Sie sicher?“, fragt Achim ungläubig. „Hab ich mich auch gefragt?“, wirft der Novize ein, der immer noch in der Tür stand. „Er schaut ja nicht besonders freudenreich aus“.

„Danke, Klein, ich weiß schon, was ich an Freudenreich habe. Sie können uns jetzt allein lassen“, meint die Stimme aus dem Off. Der Novize verschwindet.

Der Sessel dreht sich. Gabriel strahlt übers ganze Gesicht. „Heute ist Ihr Tag, Freudenreich! Ich hab mich so für Sie eingesetzt!“

„Für mich?“, fragt Achim. „So desaströs, wie ich beieinander bin? So derangiert, wie ich aussehe?“

„Herrlich, einfach göttlich“, strahlt der Gabriel. „Genauso brauche ich meine Leute! Nicht immer so durchgestylt, so aalglatt.“

Und dann kommt Gabriel auf Achim zu, nimmt ihn zur Seite, legt einen Arm um seine Schulter und führt ihn zum Fenster. „Sehen Sie mal darunter“, meint der Chef.

„Einkaufsstraße. Lichtermeer. Wahrscheinlich zu Herzen gehende Musik könnten wir hören, wenn wir das Fenster aufmachten“, beschreibt Achim, was er sieht.

Und Gabriel führt fort: „Da, die kleine Lina auf dem Karussell. Wenn die keine Ohren hätte, die könnte sich rundherum freuen. Und Markus und Judith am Glühweinstand. Schauen Sie sich die beiden an: da ist nicht nur der Glühwein heiß! Auch ihre Liebe! Und dort Else und ihr Harry: jedes Jahr kommen Sie auf den Weihnachtsmarkt: Sie teilen eine Portion Schmalzkuchen. Sie könnten jeder eine eigene Portion für sich haben, aber sie wollen teilen. Schieben sich gegenseitig diese Köstlichkeit in den Mund. Und passen Sie auf, gleich kommt´s, jeeeetzt:“ Achim sieht, wie Else und Harry in den Puderzucker pusten, dass Else eine weiße Mütze und Harry einen Zuckerbart bekommt.

„Kindsköpfe“, mein Achim und denkt daran, dass das Zeug ewig in den Klamotten hängen bleibt. „Pfui Deibel!“

„Ach, ist das, schön. Das ist doch Advent, oder, mein lieber Freudenreich?“

„Mit Verlaub, Hochwürden“, entgegnet Achim, „Wer hat eigentlich die Mär verbreitet, dass Advent schön sei? Und besinnlich? Ich finde ihn gar nicht schön. Ich träume mitunter schlecht, dass die Welt, wir, ich in die Irre gehen. Endlos lange Listen, was alles liegen blieb und dringend hätte erledigt werden müssen. Und dass am Ende die ganze Kiste gegen die Wand knallt. Wie sollte ich auch gut schlafen, wenn die Welt so ist wie sie ist, wenn ich so bin wie ich bin?

Wer hat eigentlich die Mär verbreitet, dass am Ende alles gut wird? Am Anfang von Predigten und Karten eine lange Litanei der Krisen und dann der mühsame Versuch, irgendwie noch die Kurve zu kriegen. Weil das nicht das doch nicht alles gewesen sein darf. Weil es so einfach nicht enden kann. Und weil damals doch auch Licht schien mitten in der Nacht. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“

„Freudenreich, weil Sie so sind, wie Sie sind, sind Sie mein bester Mann. Es ist nicht alles gut. Bei Lina nicht. Sie kommt in der Schule nicht mit, sieht man nicht, oder? Markus und Judith sind heiß verliebt, aber Judith weiß nicht, wie sie Markus sagen soll, dass sie einen Job in einer anderen Stadt annehmen will. Und Else und Harry? Sie sind froh, mal auf andere Gedanken zu kommen, denn zuhause grübeln sie, wie es mit ihnen weitergehen soll, jetzt, wo sie richtig alt sind und niemanden haben, der sich um sie kümmern wird, wenn es zuhause nicht mehr geht.“

„Oh, du lieber Advent, du schöner Schein!“, haut Achim dazwischen.

„Besser als gar nichts“, meint sein Chef. „Wenigstens diesen Moment haben Sie. Einen Freudenmoment.“

„Und wozu brauchen Sie dann mich?“, fragt Achim. „Sehen Sie mein guter“, meint der Gabriel. „Ich möchte, dass die Menschen da unten alle Freudenmomente bekommen. Mindestens einen Moment. Machen Sie Ihrem Namen alle Ehre!“

„Freudenreich?“

„Auch!, meint der Gabriel. „Achim: „Der Herr hat (wieder) erstehen lassen.“ Also Freude entstehen lassen.

„Ich abgerissene Gestalt soll Freudenmomente schaffen? Das ist nicht Ihr Ernst?“

„Mein völliger Ernst, Freudenreich! Sie sind, wie Sie sind. Ja, tatsächlich abgerissen. Sie kennen das Leben. Sie kennen die Dornen. Das sieht man Ihnen an. Die Menschen werden Ihnen das abnehmen, wenn Sie Sie Freudenworte reden und Freudenmomente schaffen.“

„Puh“, schnauft Achim durch. „Das ist echt ne krasse Nummer, die Sie mir da zutrauen! Sie glauben wirklich diese Mär, dass alles schon gut und besinnlich und freudenreich wird!“

„Ich bin Optimist. Sonst wäre ich falsch am Platze. Wir haben da als irdische Außenstelle auch ganz klare Handlungsanweisung von ganz Oben. Diese „Mär“, wie Sie es nennen, mein lieber Freudenreich, hat der Höchste selbst begonnen. Nicht vom besinnlich schönen Advent, doch davon, dass er kommt. Von Christus im Stall, von Frieden auf Erden und davon, dass Er am Ende einmal alles neu macht. Bis dahin ist sein Bodenpersonal dran.“

„Und was soll ich genau tun?“, fragt Achim.

„Tun Sie, was Sie wollen, nur: Lassen Sie die Menschen nicht. Lassen Sie die Welt nicht, wie sie ist. Platzen Sie rein bei denen, die nicht fertig werden. Greifen Sie denen unter die Arme greifen, die taumeln. Reißen Sie den Himmel auf. Lassen Sie mal Licht rein in die finstre Bude. Mit leisem Säuseln, im Sturmwind oder Feuer und Flamme, für die, die sich nach etwas mehr Bewegung im Leben sehnen. Fahren Sie mit ihnen Karussell, essen Schmalzkuchen, trinken Glühwein. Sehen Sie sich die Menschen an. Genau. Stellen Sie sich deren Dornen vor. Und dann gehen Sie mit. Sie haben ein gutes Gefühl dafür, was Freude bereitet. Die Freude wächst von ganz allein. Sicher. Erst unscheinbar. Nur ein Gefühl. Und einmal wird die Freude ans Licht kommen und das Leben, das Sie begleitet haben, blühen. Wahrscheinlich nicht morgen. Auch noch nicht übermorgen. Aber der Tag wird kommen. Und bis dahin werden die Menschen, die Sie mit Freude füllen, sein wie die Träumenden und selig schlafen. Und nun raus, Freudenreich, Gott mit Ihnen. Achso. Kleiner Tipp für den Anfang: Die dicke Krause unten am Empfang hat´s grad nicht leicht. Sie soll angeblich eine schöne Stimme haben und gern singen. Singen Sie mit ihr. Das wird sie freuen!“

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