Herr Liebezeit
Herr Liebezeit und der Himbeermut
Herr Liebezeit trifft Gott, als er gerade die Mülltonne an die Straße stellt. Herr Liebezeit, natürlich. Nicht Gott. Jedenfalls ist bisher nichts darüber bekannt, dass Gott Müll produziert. Herr Liebezeit hat Müll. Und den stellt er alle zwei Wochen an die Straße. Samstags. Dann hat er frei. Und dann putzt er. Bis alles blitzeblank ist. Herr Liebezeit tut das zwar nicht gern. Aber von dem Ergebnis ist er begeistert. Dann strahlt er mit den Fliesen immer um die Wette.
Gott hat auch frei. Er putzt nicht. Jedenfalls heute nicht. Er geht lieber in die Berge. Kleiner Rucksack, Wanderstöcke, funktionelle Kleidung, braun gebrannt und gut gelaunt: so trifft Gott Herrn Liebezeit. Es ist Zeit für ein kleines Schwätzchen am Gartenzaun. Gott bewundert Herrn Liebezeit. Und sagt ihm das auch. Liebezeits Garten grünt und blüht. Das Haus gut in Schuss. Herr Liebezeit ist so pflichtbewusst. So diszipliniert. So organisiert. Ein Leben ohne Fehl und Tadel, findet Gott. Außer der Gesichtsfarbe von Herrn Liebezeit vielleicht. Ein bisschen blass ist der Gute um die Nase. Frische Luft würde ihm gut tun, denkt Gott. Und lädt ihn kurzerhand ein. „Lust auf eine Bergtour? Ganz spontan?“ Herr Liebezeit erstarrt. Er wird noch blasser. Etwas Spontanes hatte er nicht geplant. Spontanes bringt ja alles durcheinander. Das macht ihm Angst. „Bergtour? Jetzt?“, stammelt er. „Aber, ich habe noch soviel zu tun!“ Gott will es genau wissen. „Was denn?“, fragt er.
„Die Fenster …!“ , sagt Herr Liebezeit schnell. „So so, die Fenster!“, sagt Gott. Und schaut auf die Scheiben, die so sauber sind, dass man von ihnen essen könnte, wenn sie liegen würden.
„Das Auto…!“, machte Herr Liebezeit einen neuen Versuch. „So, so das Auto!“, hält Gott dagegen. Ein saubereres Auto und strahlendere Felgen hatte er noch nie gesehen.
„Die Steuer…!“ Damit müsste sich Gott geschlagen geben, denkt Herr Liebezeit. Doch Gott ist hartnäckig. „So, so die Steuer. Die hat noch vier Wochen Zeit. Dein Steuerberater hat das doch alles für dich im Blick.“
Herr Liebezeit gibt sich geschlagen. Er schweigt. Schlägt die Augen nieder. Gott schweigt auch. Sieht Herrn Liebezeit eine Weile an. Sieht, wie es in ihm arbeitet. Gott lächelt milde. Sanft sagt er: „Ach du, Liebezeit, kann ich dich nicht locken? Einfach mal anders sein als alle Samstage? Was hält dich zurück?“
Zärtlich legt Gott Herrn Liebezeit einen Arm um die Schulter. Schiebt ihn zur Bank vor dem Haus.
Und dann bricht es aus Herrn Liebezeit heraus: „ Die Angst!“. „Die Angst hält mich zurück. Ich wäre auch gern so spontan wie du. Aber die Angst lässt mich nicht los. Irgendwer hat mir schon in die Wiege die Angst mit hineingelegt. Sie hat mich immer begleitet seit ich klein bin. Das Licht im Flur mussten die Eltern brennen lassen, wenn sie abends fortgingen. In der Schule saß mir die Angst im Nacken, wenn der Herr Dr. D. die Lateinvokabeln abfragte. Auf dem Pausenhof machte die Angst mein Gesicht schamrot, wenn ich als Letzter in die Fußballmannschaft gewählt wurde. Brille und Mopsstatur sei Dank. Heute muss bei mir immer alles pikobello sein. Stell´dir vor, ich falle tot um, und bei mir schaut es aus wie bei den Hempels. Hörzu, Gott: Die Angst hängt an mir – über fünfzig Jahre. Wir könnten glatt Goldene Hochzeit feiern.
Ich will die Angst nicht feiern. Sie ist mir schon lange lästig. Sie steht mir immer im Weg. Sie klammert. Hält zurück. Will mich ganz. Sie ist häuslich. Liebt es traditionell. Wie es halt immer war. Bleib doch, sagt sie immer. Wie der Schuster bei seinen Leisten. Die Angst duldet keine Nebenbuhler. Jedem flirt gebietet sie Einhalt. Sie flüstert mir ins Ohr, was alles passieren könnte. Und schon lege ich den Prospekt vom Gleitschirmflug wieder weg. Zwickt mich mein Körper, führt mich die Angst auf dubiose Internetseiten. Es steht schlimm um mich, lerne ich. Und die Angst lacht sich schlapp.“
„Komm“, sagt Gott. „Komm und lass die Angst reden, was sie will. Komm, lass die Angst. Etwas Besseres als die Angst findest du überall. Ich mach dir ein Angebot. Keine Bergtour. Wir gehen Himbeerenpflücken. Da oben am Wald.“
„Das hab ich zuletzt als Kind gemacht!“ Bei dem Gedanken an Himbeeren bekommt Herr Liebezeit eine Pfütze auf der Zunge. Und willigt ein. „Gehen wir.“ Er will noch „nicht so lange“ sagen, aber da steht Gott schon auf der Straße.
Es wird ein herrlicher Tag. Gott und Herr Liebezeit stromern durch die Himbeerbüsche. Mampfen um die Wette. Die Kratzer der Dornen sind egal. Mit vollem Magen und roten Himbeermündern werfen sie sich ins Gras und schauen zum Himmel. „Weißt du, was ?“ fragt Herr Liebezeit. „Du wirst es mir gleich sagen“, sagt Gott. „Die Angst ist auch nicht mehr das, was sie mal war!“ Und lacht. Und kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen.
Herr Liebezeit und Max
Es ist 23.19 Uhr. Es klingelt an der Tür. Herr Liebezeit putzt gerade seine Zähne. Es klingelt wieder. Mehrmals. Das mag Herr Liebezeit nicht. Besuch um diese Zeit. Und gedrängelt werden zwei Mal nicht. Es klingelt weiter. Herr Liebezeit eilt zur Tür. Die Zahnpastareste geben seinem Mund einen merkwürdig fahlen Ausdruck. Noch fahler steht Max in der Tür. Sein Sandkastenfreund.
„Die Tür ist zu!“, schießt es aus Max heraus, bevor Herr Liebezeit sagen kann, wie erstaunt er ist, Max zu sehen. Um diese Uhrzeit. Überhaupt findet Herr Liebezeit Max´ Worte irgendwie ulkig, weil er ihm doch gerade die Tür geöffnet hat.
Max ist außer sich. Er drängt an Liebezeit vorbei. „Die Tür ist zu!“, schnauft Max nochmal. „Ich hab´s vermasselt!“ Das ist für Herrn Liebezeit nicht wirklich neu. Immer wenn Max etwas vermasselt, kommt Max zu ihm. Liebezeit ist immer da.
„Cognac?“, fragt Liebezeit.
„Doppelt!“, sagt Max. „Und eine von deinen guten Zigarren.“
Um die bittet Max nur, wenn es ganz schlimm um ihn steht. Diese Nacht wird lang.
Mit Cognac und Zigarren sitzen Max und Liebezeit auf dem Balkon. In Wolldecken gehüllt. Starren in den Himmel. Er ist voller Sterne.
„Die Tür ist zu?“, fragt Liebezeit in die Nacht hinein. „Du hast´s vermasselt?“
„Marianne hat mich vor die Tür gesetzt. Genaugenommen hat sie mich gar nicht erst rein gelassen“, erklärt Max.
„Das wird wohl einen Grund haben“, ahnt Liebezeit voraus.
„Ich hab´s echt vermasselt! Ich hab schon wieder unseren Hochzeitstag vergessen!“
„Das ist ein Problem“, räumt Herr Liebezeit ein. „Wie kannst das einen Tag vor Heiligabend vergessen? Leichter geht’s doch nimmer! Mensch, Max!
„Ach du, Liebezeit, was soll ich denn jetzt machen?“, fragt Max.
„Kannst bei mir schlafen. Du kennst dich ja aus“, meint Herr Liebezeit.
„Und Morgen?“, fragt Max.
„Morgen ist Heiligabend. Du gehst zu deiner Marianne nach Hause. Du machst die Tür einfach wieder auf. Marianne wird schon nicht über Nacht das Schloss austauschen.“
„Aber wie soll ich´s denn machen?“ Max ist ratlos.
„Ach, Max! Du hast doch mal gewusst, wie es geht. Denk doch mal nach!“
Sie nippen am Cognac. Paffen in den Sternenhimmel hinein. Und schweigen. Schweigen verbindet.
„Blumen?“ Max macht einen ersten Versuch.
„Max, das ist nicht dein Ernst. Blumen sind zu billig. An Heiligabend. Dann ist Marianne erst recht gekränkt!“, weiß Herr Liebezeit.
„Perlen?“, tastet sich Max weiter.
„Max! Muss sich Marianne Sorgen machen?“
Max macht einen neuen Vorschlag.„Eine Kreuzfahrt?“
„Max! Ihr müsst doch nicht das Weite suchen, um wieder glücklich zu werden. Und du musst dich auch nicht in den finanziellen Ruin stürzen!“ Herr Liebezeit ist fassungslos. Und schiebt nach „Max, hast du wirklich vergessen, was dich glücklich macht? Und Marianne? Wie ihr glücklich geworden seid? Schau, die Blumen, die du ihr geschenkt hast, sind längst verwelkt. Die Perlen längst aus der Mode. Meinst du wirklich, Blumen und Perlen erobern dauerhaft Mariannes Herz?“
Sie schweigen. Lang.
„Es waren Nächte wie diese“, sagt Max nach einer Ewigkeit. Kleinlaut. „Nächte wie diese! Sterne am Himmel. Nur wir zwei. Am Meer. Nur noch der Himmel über uns. Mehr haben wir nicht gebraucht, um glücklich zu sein. Um immer wieder von diesen Nächten zu erzählen. Nur wir zwei und der Himmel. Und alles war gut!“
„Max“, sagt Herr Liebezeit und nimmt seinem Freund sanft das Glas aus der Hand. „Max, worauf wartest du?“
(Geschichte nach dem Automatischen Schreiben inspiriert zu den Stichworten „Perle, Wertvoll, Himmelreich“ aus dem Bibeltext: Matthäus 13, 45-46)
Schreibe einen Kommentar
Herr Liebezeit und der Adventsengel
Als Herr Liebezeit von seinem Adventseinkauf nach Hause kommt, traut er seinen Augen kaum. Irgendjemand hatte doch neben sein Türschild „Liebezeit“ mit Kreide „und Engel“ geschrieben. „Witzbold“ denkt er noch, als er die Tür aufschließt.
Der „Witzbold“ sitzt in seiner Küche. Ziemlich zerzaust. Mit Flügeln knapp unter den Schulterblättern. Die Küche gleicht einem Schlachtfeld. Nichts ist mehr zu sehen vom Adventsgroßputz. Wohin Herrn Liebezeits Augen auch wandern: überall Zeitungsschnipsel. „Wer bist du?“, fragt Liebezeit. „Ich bin der Adventsengel“, sagt der Witzbold, „und jetzt mach endlich die Tür zu, es zieht. Sonst ist meine ganze Arbeit umsonst“.
„Was um Himmels willen machst du hier? Wie schaut es denn hier bloß aus?“, fragt Herr Liebezeit ungläubig
„Ich suche den Himmel?, antwortet der Engel.
„In meiner Küche?“, fragt Herr Liebezeit noch ungläubiger. „In dem du Zeitungen in Fetzen schneidest? Und alles durcheinanderbringst?“ Herr Liebezeit mag keine Unordnung.
„Willkommen im Advent“, sagt der Engel. „Niemand hat gesagt, dass im Advent alles beim Alten bleibt. Es wird Zeit, dass der Himmel ankommt. Das ist geht nicht engelleicht, so im Flügelumdrehen!“ Advent heißt Ankunft. Da ist Bewegung angesagt.“
„Danke, das hast du glänzend geschafft!“, seufzt Herr Liebezeit.
„Komm, jetzt hab dich nicht so, Liebezeit“, muntert der Engel auf. „Ist doch um des Himmels willen.“
„Aber Durcheinander haben wir doch in der Welt gerade schon genug. Da brauch ich nicht noch ein Durcheinander um des Himmels willen“, echauffiert sich Herr Liebezeit.
„Doch, brauchst du“, kontert der Engel. „Braucht die ganze Welt: einen Himmel, der das Durcheinander solange durchstöbert, bis alles seine Ordnung hat. Also des Himmels Ordnung versteht sich.“
„Das wäre schön“, muss Herr Liebezeit zugeben.
„Und sogar möglich“, sagt der Engel mit leuchtenden Augen. „Schau mal, was ich gefunden habe!“
Erst jetzt bemerkt Herr Liebezeit einen kleinen Stapel ordentlich sortierter Zeitungsausschnitte auf dem Küchentisch. Nur Überschriften:
Junger Mann spendet 25.000 € für Kirchenwälder in Äthiopien.
Konrad Beifuss seit zehn Jahren Lesepate.
Eva Jungblut organisiert ehrenamtlich Suppenküche für Obdachlose.
Cilly Näher findet spätes Glück als Leihoma.
Hermann Ruh schlichtet jahrelangen Streit in der Laubenkolonie.
„Das ist der Himmel? Aber das sind ja Menschen! Wie ich!“, stellt Herr Liebezeit fest.
„Die den Anfang machen. Die an die Verheißung glauben! Du doch auch, oder?“ fragt der Engel herausfordernd.
„Dass Friede werde…?“, ahnt Herr Liebezeit.
„Himmlischer Friede!“, bestätigt der Engel. „Also, bist du dabei?“ fragt der Engel, ordnet sich Flügel und Haare und steht schon an der Tür. „Komm, gehen wir die Welt ordnen, zusammen mit den anderen, die schon angefangen haben. Da, wo wir am allerwenigsten damit rechnen, könnten wir den himmlischen Frieden aufstöbern!“
Ganz wohl ist Herrn Liebezeit nicht, seine Küche so zurückzulassen. Aber was sind schon ein paar Papierschnipsel, wenn man den himmlischen Frieden finden könnte, denkt er sich und folgt dem Engel.
Schreibe einen Kommentar
Herr Liebezeit und die Sehnsucht nach Gewissheit
Predigt am Altjahrsabend 2023 zu Römer 8, 31ff.
Sie werden lachen. Sicher, Sie werden lachen, wenn Sie seinen Namen hören. Sylvester Liebezeit. Sylvester mit „Y“. Sehen Sie, Sie lachen, auch wenn Sie es nicht zeigen jetzt, weil sie sich jetzt keine Blöße geben wollen. Aber sie lachen über diesen Namen. Es gab Zeiten, da hat sich Sylvester darüber geärgert. Der Dicke neben ihm in der Grundschule hieß Balduin Schreck. Ja, das war eine Strafe! Aber nicht Sylvester Liebezeit. Außerdem war er ja vollkommen unschuldig. Er hat sich den Namen ja nicht gegeben. Was konnte er dafür, dass seinen Eltern nichts Originelles eingefallen war, als ihm dem Namen seines Geburtstages zu geben. Sylvester. Das ist sein Geburtstag. Also heute. Inzwischen kränkt Sylvester das Lachen nicht mehr. Allerhöchstens ein Gähnen überkommt ihn, wenn jemand mal wieder kalauert „Ach, du liebe Zeit!“ Was ja klingt wie ein Unglück, das einem widerfährt.
Erschrecken muss man sich vor Sylvester nicht. Er schaut noch ganz gut aus für seine 59 Jahre. Etwas mehr Haare könnte er haben, ja. Aber ansonsten sind Köpergröße und Gewicht in einem akzeptablen Verhältnis. Auch sonst ist Sylvester ein sehr umgänglicher Typ. Der nette Nachbar von nebenan. Zuverlässig versieht er die Hausordnung. Füttert die Katze von Frau Dumont, wenn die mal wieder auf Reisen ist. Bringt dem alten Herrn Pilz die Zeitung in den fünften Stock. Und dem netten Fräulein von Mowinckel jeden Samstag zwei Semmel vom Bäcker mit. Fräulein von Mowinckel ist 93, ledig und besteht auf das Fräulein.
Herr Liebezeit liebt die Ordnung. Sein Tagesablauf ist akkurat durchgeplant. Selbst der letzte Tag des Jahres und sein erster im neuen Lebensjahr unterliegt einer heiligen Routine. The same procedure as every year.
Gang zum Friedhof, dann Gottesdienst, anschließend Sylvesterkonzert, Dinner for one, Hirschragout aus der Dose – die Weihnachtsgabe des Metzgers seines Vertrauens, dazu die obligatorische Flasche Rotwein, die er vom Chef zu Weihnachten erhalten hat. Dann eine Zigarre, die er sich nur zu ganz besonderen Momenten gönnt. Eine schöne Musik dazu. Und um Mitternacht mit dem Fahrstuhl in den zehnten Stock seines Hauses und vom Dach das Feuerwerk und Glockengeläut genießen.
Aber vor allem steht auf seinem Laufzettel: Putzen. Ein glänzender Geburtstag soll es sein. Ein glänzender Jahreswechsel noch dazu. Das alte Wegmobben und bereit für das Neue werden. Und er weiß: wenn es Außen glänzt, wenn es in der Wohnung aufgeräumt ist, dann ist er es auch innen drin.
Vorbildlich, denken Sie? Und Sie wissen tief im Innern, dass Herr Liebezeit wie Sie ist, nicht wahr? Sie sehnen sich nach einem Neustart. Darum klar Schiff machen. Freiraum gewinnen. Lüften. Durchatmen. Da hat der Jahreswechsel so was von Geburtstag. Sylvester Liebezeit: ein Bruder im Geiste, nicht wahr?
Sie müssen allerdings wissen, dass Bruder Liebezeit einen Putztick hat. Er putzt als Erstes die Fragezeichen*. Die stehen überall im Raum. Liebezeit hat so viele Fragen. Nach Gott und der Welt.
Manche Fragen stellt er sich zum Spaß. Zum Beispiel: Wie viele Menschen kann man gleichzeitig lieben? Braucht es mehr Mut zum Mond zu fliegen oder zur Welt zu kommen? Was hat Gott gemacht, bevor er die Welt erschuf?
Ernst ist es Herrn Liebezeit mit der Frage, wie klein ein Mensch sein muss, also im Innern, wenn er anderen etwas wegnimmt? Wobei „etwas“ die Wirklichkeit ja nicht trifft, wenn es um die Heimat, die Zukunft, die Söhne, die Väter, ach: das nackte Leben geht.
Und Herr Liebezeit fragt sich, wie man mit Waffen Frieden schaffen kann? Seit er 18 ist, stellt er sich diese Frage! Und jetzt steht er da mit seiner frisch polierten Frage und weiß keine Antwort, weil: sich verteidigen ohne Waffen öffnet dem Wahnsinn Tor und Tür. Und die Freiheit könnte hinausgejagt werden wie ein alter Gaul, der ausgedient hat.
Herr Liebezeit fragt sich auch, ob Leute Verständnis erwarten können, wenn sie ihre Meinung mit Händen auf den Asphalt kleben oder mit Kartoffelbrei auf einen van Gogh. Nicht, dass Herr Liebezeit der Meinung keine Freiheit gönnt. Er hat ja auch seine und sagt sie. Man muss Menschen anderer Meinung ernstnehmen und ihnen Raum geben. Aber durch solche Aktionen wird das Klima ja aber auch nicht gerettet, denkt Liebezeit. Nur das Klima in der Diskussion wird rauer. Das können wir doch auch nicht gebrauchen. Wer bringt denn die Pole wieder zueinander, bevor sie schmelzen? Wieder eine Frage!
Wenn Herr Liebezeit mit den Fragzeichen fertig ist, macht er sich an alles, woran er sich stößt in seiner Wohnung. Er kann nur den Kopf schütteln! Er hält doch immer Ordnung. Und trotzdem sammelt sich im Laufe eines Jahres so viel Gruschd an. Irgendwas ist immer nicht erledigt. Irgendwas ist immer nicht fertig. Irgendetwas steht immer im Weg. Also fast er einen Entschluss: Aus vier Stapeln macht er zwei, sieht schon nach viel weniger aus. Er balanciert die neuen Türme gekonnt aus, dass sie ja nicht zusammenbrechen. Dann nimmt er sich für heute das Oberste vor. Was für ein Glück: Rechts der Garantieschein für seine Küchenmaschine. Den kann er gleich entsorgen, die Maschine hat er schon seit drei Jahren nicht mehr.
Links der Zeitungsartikel mit der Rezension der letzten Opernvorstellung in seinem Abo. „Die Macht des Schicksals“. Was für ein Abend, Was für Stimmen. Was für eine Geschichte. Kennen Sie nicht? Völlig verkorkste Familie. Fanatische Menschen. Diskriminierende Leute. Standesdünkel. Keiner übernimmt Verantwortung: für den Tod nicht. Und für die Liebe auch nicht. Warum gibt es nichts Neues unter der Sonne? Die nächste Frage!
Liebezeit merkt, wie ihm allmählich die Zeit davonläuft. Er muss sich jetzt sputen, sonst ist es am Grab dunkel. In jedem Fall will er vorher noch die Verletzungen des letzten Jahres in die Tonne treten. Sind nicht viele, aber die wenigen müssen weg. Und damit es später schön ist, streicht er schnell noch seine Hoffnungen neu. Grashüpfergrün und Karminrot sind heuer angesagt.
Apropos karminrot: Liebezeit schnappt sich zwei rote Rosen und eilt zum Friedhof. Er legt die Blumen aufs Grab der Eltern. Hält kurz inne. Ein „Danke“ beendet die Stille. Und wie immer mit einem Kuss in die Luft und einem Herzen dazu besiegelt er die Liebe zu Vater und Mutter. Auf immer und ewig. Und fliegt zur Kirche.
Die warme Orgelmusik zu Beginn des Gottesdienstes tut gut. Der Pfarrer sagt zur Begrüßung. „Meine Zeit steht in Gottes Händen!“ Und Liebezeit nickt. Und dann auch ein. Lauter Fragezeichen tauchen vor dem inneren Auge auf. Und plötzlich auch an sein Ohr:
„Wenn Gott für uns ist, wer kann sich dann noch gegen uns stellen?
Wenn er uns aber seinen Sohn geschenkt hat, wird er uns dann nicht auch alles andere schenken?
Was kann uns von Christus und seiner Liebe trennen?
Etwa Leid, Angst oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder gar der Tod?“
Sylvester Liebezeit freut sich: Ha, endlich einer, der auch Fragen stellt. Paulus. Ein Bruder im Geiste. Auch wenn er keine Antworten hat. Seine Gewissheit genügt Liebezeit für heute Abend:
„Ich bin gewiss: Nichts kann uns von der Liebe Gottes trennen –nicht der Tod und auch nicht das Leben, keine Engel und keine weltlichen Mächte, nichts Gegenwärtiges und nichts Zukünftiges und auch keine andere gottfeindliche Kraft. Nichts Über- oder Unterirdisches und auch nicht irgendetwas anderes, das Gott geschaffen hat –nichts von alledem kann uns von der Liebe Gottes trennen. In Christus Jesus, unserem Herrn, hat Gott uns diese Liebe geschenkt.“ (Römer 8, 31 ff. in Auswahl)
Und das zum Geburtstag! So gewiss will Sylvester Liebezeit auch ins neue Jahr gehen. Als er im Gesangbuch das nächste Lied „Von guten Mächten“ aufschlägt, entdeckt er auf seinem Handrücken einen Fleck. Karminrot. Wie die Liebe. Seine frisch gestrichene Hoffnung. Sie bleibt. Auf immer und ewig. Amen.
* Die Idee der Fragezeichen habe ich mir von Susanne Niemeyer geliehen, aber anders ausgeführt.
Schreibe einen Kommentar