Gelungenes Leben
Predigt zu Jona 4
25. Juni 2023, Evang.-Luth. „Zum guten Hirten“, Fischen im Allgäu
Walter Wemut hat ein Problem. Seit dreißig Jahren schreibt er für die Tageszeitung Nachrufe.
„Die Toten der Woche“ heißt seine Rubrik. Den Toten einen Nachruf schreiben, bedeutet für Walter Wemut: das Leben feiern.
Doch jetzt hat er ein Problem. Eine Freundin wünscht sich von ihm eine Rede zu ihrem achtzigsten Geburtstag. Er soll das Leben feiern. Schon vor dem Tod. Arbeitstitel: „Das gelungene Leben!“ Was ist denn das, ein gelungenes Leben? Wer entscheidet darüber? Über diese Fragen denkt Walter Wemut nach. Entstanden sind Handreichungen für ein gelingendes Leben. Aufgezeichnet in dem entzückenden Büchlein „Wozu wir da sind“ von Axel Hacke.
Walter Wemut findet, man müsste die Frage nach dem gelungenen Leben auf der Straße stellen. Weil die Folge ja wäre, dass Menschen sich mit dieser Frage beschäftigen, was ein gelungenes Leben für sie sein könnte – und darauf kommt es doch an, oder? Dass man sein Leben bewusst führt, es prüft, dass man die Zügel in die Hand nimmt und nicht so vor sich hin existiert und seine Tage vergeudet. Oder sein Leben anderen überlässt. Also trage ich Walter Wemuts Frage zu dir und mir. Ich frage:
Was ist gelungen? Ich könnte sagen: wenn ich mich im Leben für etwas entscheiden musste und gut gefahren bin mit der Entscheidung. Wenn ich mit meinem Leben zufrieden bin. Und ich trauere nicht dem anderen ungelebten Leben nach, gegen das ich mich ja auch entschieden habe.
Nur: ist das „Zufrieden“ erstrebenswert? Zufriedenstellend ist in der Schule eine „3“. Durchschnitt.
Hab ich als Schulnote gehasst. Luft nach oben und nach unten.
In Zufrieden steckt aber auch Frieden. Die Frage ist: kann ich Frieden damit machen, dass mein Leben irgendwo zwischen grandios und grottenschlecht verläuft? Ist das nicht sogar schon ziemlich viel, wenn einer das sagen kann „Ich bin zufrieden“?
Was ist gelungen? Sind es die Kinder, aus denen etwas geworden ist? Ist es die Liebe, die ein ganzes Leben trägt, bis dass der Tod die Liebenden voneinander scheidet? Ist es mein Lebensplan, den ich mir mal erträumt habe?
Nur: wenn die Träume geplatzt sind, die Liebe nicht alles aushält und die Kinder nach eigenem Empfinden aus der Art geschlagen sind? Ist dann das Urteil über mein Leben gesprochen? Misslungen? Für die Tonne?
Was ist gelungen? Wenn ich möglichst viele Glücksmomente sammle? Wenn ich meine Ziele verfolge und auch erreiche? Nur: an manchen Tagen habe ich schlicht keine Lust auf diese Verfolgungsjagd.
So viele Fragen. Und Walter Wemut sei Dank, wachse ich allmählich in Antworten hinein. Eine führt über ein paar Zeilen aus Leonard Cohens Song „anthem“.
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That´s how the light gets in
Frei übersetzt:
Läute die Glocken, die noch läuten können.
Vergiss jede perfekte Opfergabe.
Da ist ein Riss in jedem Ding.
So fällt das Licht hinein.
Für Leonard Cohen gibt es im Leben keine perfekten Lösungen. Nirgendwo. Denn die Welt ist voller Brüche und Risse. Aber genau dort dringt das Licht ein, und genau dort liegt die Möglichkeit zur Umkehr, zur Reue. In der Konfrontation mit der Kaputtheit der Dinge. Sagt Cohen.
Die Bibel ist voll an Geschichten, in denen Gott seine Menschen konfrontiert mit der Kaputtheit der Dinge. Heute geraten wir mitten in die Konfrontation Gottes mit den Menschen in Ninive. Und wir geraten in die Konfrontation Gottes mit Jona, Gottes auserwählten Unheilspropheten.
Was Jona angeht: Er ist erst im zweiten Anlauf Unheilsprophet für Ninive. Ich hab es euch erzählt. Er predigt in Ninive wie ein Null-Bock-Prophet, der Dienst nach Vorschrift ableistet. Es ist wohl die kürzeste Predigt, die die Welt oder wenigstens Ninive jemals gehört hat. Sie besteht im Hebräischen aus fünf Wörtern: In fünf Tagen / Ninive / zerstört.
Und dann kommt alles ganz anders! Die Menschen kriegen die Kurve zum Guten. Gott ist ihr Tod leid. Jona ist sauer. Gott macht auf good cop, und wie steht er jetzt da, der Prophet? Lügenprophet werden sie zu ihm sagen. Krachend gescheitert als Unheilsprophet, weil das Unheil ausgeblieben ist. Jona ist vollkommen verzweifelt. Jona ist kaputt. Sein ganzes Leben stellt er infrage: sein ganzes Leben misslungen. So sieht er sich. Jona möchte lieber sterben als ein gescheiterter Unheilsprophet sein. Gut möglich auch, weil in der Thora steht: „Wenn der Prophet im Namen des Ewigen etwas verkündet, und es erfüllt sich nicht und trifft nicht ein – das ist ein Wort, das der Ewige nicht gesprochen hat.“ (Dtn. 18, 21f.) Kommt dazu, dass gemäß Mose ein solcher Prophet sterben soll (vgl. V. 20).
Ich bin so hin- und her gerissen bei diesem Jona. Ich fühle ihm seine Verzweiflung nach. Und gleichzeitig stelle ich mir vor: Ich sage einem Hater im Internet mit fünf Worten: „Dein Hass führt ins Verderben!“ Und der sagt: „O Gott, du hast recht. Wie konnte ich so böse reden!“ Und schreibt hinfort Liebesgedichte! Das ist doch unglaublich. Aber möglich.
Und ich denke mir: Wieviel würden Eltern oder Lehrkräfte darum geben, wenn nur fünf Worte dazu führen, dass ein Kind auf den Pfad der Tugend oder wenigstens des Lernens finden würde. Stellt euch vor, das läuft wie in Ninive. Stellt euch vor, diese zwei Sätze mit sechs und mit fünf Wörtern, die ich als Schüler und Sohn bis zum Erbrechen gehört habe: „Du lernst nicht für die Schule. Du lernst für das Leben.“
Und dann sagt einer nicht: „Ja, Mama“ und meint eigentlich „ist mit wurscht“, geht hinters Haus und lacht.
Sondern er erschrickt sich. Und sagt zur Mama, zum Dad oder dem Lehrer, ganz erschrocken freilich: „O Gott, wie gut, dass du mir das sagst. Ich hab das ja bisher alles falsch gemacht. Das war mir nicht gewusst. Da werde ich mich jetzt gleich ändern und alles wird gut.“ Ei, das glaubt doch kein Mensch!!! Aber wenn es so käme, wäre es schon schön, oder? Ich kann und mag mir jedenfalls keine Eltern und keine Lehrkräfte vorstellen, die am Untergang eines Kindes Gefallen finden.
Und solch einen Gott mag ich mir nicht vorstellen. Ich weiß, dass Generationen diese Vorstellung vermittelt bekommen haben. Ich sage euch: die Rede von diesem Gott ist ein böses Märchen.
Jona lernt das schmerzhaft. Wenn er nicht geredet hätte, hätten die Menschen sich nicht erschrocken. Hätten sich nicht besonnen. Jonas fünf Worte: sie sind genau der Impuls, den Gott geben wollte, damit es dieses heilige Erschrecken in Ninive gibt. Und zum Guten führt.
Aber Jona sieht nur sich. Neun Mal sagt Jona im Gebet ich, mein, mir. Es geht ihm allein um sein gelingendes Leben. Bei Gott geht es jedes Menschenleben und ums Ganze. Solange ein Menschenleben währt, glaubt Gott an das Unmögliche, an das Wunder. Selbst bei Jona, der flieht. Gott befiehlt dem Wal nach drei Tagen, Jona auszuspucken. Die Botschaft ist nicht nur: Gott verteilt zweite Chancen. Die Botschaft ist auch: Jona, ich finde es zum kotzen, dass du vor mir wegläufst. Du bist mein Mann für diesen Spezialauftrag, das Wunder möglich zu machen und die Menschen in Ninive erkennen: Gott ist jedes Menschenleben leid, das nicht gelingt, das nicht gelingen kann, weil ihm Ansehen, Würde, Liebe versagt bleibt. Diese Liebe Gottes hüllt sich in ein altes Wort: Barmherzigkeit. Barm: im besten Sinne der Schoß, in dem sich ein verzagtes Herz bergen kann.
Ich muss es euch nicht erzählen, dass die Menschenkinder weltweit diesen bergenden Schoß versagen bis auf den heutigen Tag. Dass die Liebe nicht alles aushält. Dass die Würde antastbar geworden ist. Und der Friede mehr als nur Risse hat. Nicht nur zwischen Russland und der Ukraine. Ich kann es darum niemandem verübeln, sich den Rissen mehr hinzugeben als dem Glauben an das Wunder. Denn die Risse kann ich nicht leugnen. „Aber es ist keck, es ist menschenwürdig dem Leben mehr zu glauben als seiner offensichtlichen Vergänglichkeit.“ (Fulbert Steffensky)
So zu glauben ist für mich eine Lebenshaltung. Ein Lebensgefühl. Das könnte doch eine vorläufige Antwort auf Walter Wemuts Frage sein: Gelungenes Leben ist für mich, wenn ich mir selber und denen, mit denen ich lebe, dem Licht und der Liebe Raum gebe. Ja, manchmal sind es nur Licht und Liebe, die Totgesagte aufstehen lassen. Und das Leben verwandeln.
Ich glaube, dann bin ich erfüllt von einem Frieden, der größer ist als mein Denken und Verstehen. Heute und alle Tage! Amen.