Wandelzeit

Wandelzeit

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2024
Evang.-Luth. Christuskirche Oberstdorf

Evangelium: Matthäus 5, 38-48

Es ist Wandelzeit. Es herbstet gewaltig. Das farbige Herbstlaub hebt zu einem grandiosen Finale an. Bis Ruhe ist und die Natur brachliegt. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, meint der gute alte Rilke. Wer das jetzt vorhätte, würde auch keinen Handwerker mehr finden. Darum planen wir die Sanierung der Christuskirche auch erst für das kommende Frühjahr.

Es ist Wandelzeit. Heute wählen wir mit allen 1530 Kirchengemeinden in Bayern Frauen und Männer, die Zeit und Lust und Herzblut investieren, um ihre Kirchengemeinde zusammen mit den Hauptamtlichen zu leiten. Unser Kirchenvorstand wird sich verändern. Jede Menge neue Gesichter stehen dann für unsere Kirchengemeinde. Sie bringen ihre Sicht der Dinge ein, ihre Visionen von Kirche. Sie stellen sich der großen Verantwortung, diese Kirchengemeinde in bewegten Zeiten zu leiten. Danke schon jetzt an alle, die sich zur Wahl stellen.  Und danke allen, die die Kandidierenden mit ihrer Stimme stärken.

Es ist Wandelzeit. Und manche graut es vor einer pfarrerlosen schrecklichen Winterzeit in unserer Kirchengemeinde, vor der Herkulesaufgabe, die umfangreichen Baumaßnahmen der Pfarrhausrenovierung und des Kirchenumbaus zu stemmen. Kräftemäßig und auch finanziell. Manche können sich diese Kirchengemeinde mit neuen Gesichtern und vor allem ohne die alten noch nicht vorstellen. Ihr Lieben, die größte Angst ist die Angst vor dem ungelebten Leben. Das sage ich mir selber auch. Die Angst wird erst weichen, wenn wir Schritt für Schritt in dieses Leben hineingehen, es mit Leben füllen, uns vorantasten und irgendwann auch zurechtfinden.

Es ist Wandelzeit. In dieser Zeit und aus ihr heraus tragen Worte Jesu, die der Evangelist Johannes überliefert hat:

Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. (Johannes 15, 9-12)

Es ist Wandelzeit. Und in die hinein pocht die Liebe auf Bleiberecht. Damit das Leben in wandelnden und stürmischen Zeit gut geht.

Für genau solche Zeiten hat Johannes Jesu Worte weitergegeben. Ungefähr sechzig Jahre nach Jesu Tod tun sich die Frauen und Männer der Gemeinde des Johannes unendlich schwer, ihre Gemeinschaft und ihren Glauben ohne den leibhaftigen Jesus zu pflegen. Sie müssen sich für ihren Glauben an einen Messias rechtfertigen, der nicht da ist. Zumindest nicht leibhaftig. Immer mehr lassen ab von dem neuen Weg, den Jesus gewiesen hat. Und Johannes ruft nun „Bleibt in Jesu Liebe!“. Lasst nicht. Weichet nicht.

Es ist Wandelzeit. Die kann was von lustvollem Aufbruch haben, weil alles möglich erscheint. Sie kann genauso gut unbehaglich empfunden werden, weil alles infrage steht, was lange Zeit ein gutes Gerüst war, das getragen hat. Das war zu Jesu Zeit auch so.

Jesus sagt in der Bergpredigt: Ihr habt gehört, dass… – Ich aber sage euch… Ich stelle mir vor, dass die einen sagen, du lieber Gott, wo soll das hinführen, wenn alles umgekrempelt wird. Und andere atmen auf und sagen: Endlich einer, der anders redet, der anders liebt. Und dabei in Gottes Liebe bleibt. Ihr Lieben: Jesu Worte sind die große Erlaubnis Gott neu zu sehen. Gott neue Worte, Lieder, Namen und auch Häuser zu schenken. In allem Wandel bleibt die Liebe.

„Bleibt in meiner Liebe!“ Mir ist die Liebe heilig. Auch wenn ich weiß, dass sie mehr Platz beansprucht als ich ihr einräumen kann. Ich bin mir oft selbst zu nah. Und darum auch weit weg davon, vollkommen zu sein. Aber versuchen kann ich´s. Oder wie Michel Friedman sagt: Nicht lange reden, nicht verzagen, einfach tun. Und noch wichtiger: „Sieh im anderen einen Jemand, einen Menschen.  Sprich ihm nicht das Mensch-Sein ab, der andere ist kein Niemand.“ So ist es. „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Punkt. Daran arbeite ich mich ab.

Ich hoffe und bete, dass wir als Kirchen der Liebe Jesu ein Zuhause geben und die Menschen es uns auch abnehmen.

Ich wünsche mir, dass wir uns in der Kirche von der Liebe Jesu leiten lassen, die alles lieblose Tun, Trachten und Reden durchträumt. Dann gehen wir auf die Freude zu.

Freude zieht nach vorn. Sie macht das Leben viel leichter als die Angst. Angst ist keine gute Begleiterin in Wandelzeiten. Angst macht uns defensiv. Nimmt den Mut.

Liebe ist mutig. Jesu Liebe ist mutig. Sie pocht auf ihr Bleiberecht. Sie hält alles für möglich. Sie spielt mit dem Gegenwind und trägt dich und mich dahin, wo ein guter Geist weht.

Es ist Wandelzeit. Es ist Zeit für Mut. Für Liebesmut.

Die Liebe Jesu gebietet es, dass wir den Frauen und Männern, denen im Namen Gottes Leid an Seele und Körper zugefügt wurde, zuhören. Mit weinen. Schuld bekennen. Um Vergebung bitten. Was geschehen ist, können wir nicht ungeschehen machen. Wir können aber alle Hebel in Bewegung setzen, damit wir einander vor Übergriffen schützen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.

Ich wünsche mir, dass wir uns als Kirchen in dieser Zeit, da Menschen den Holocaust leugnen, uns nicht trennen lassen von unseren jüdischen Schwestern und Brüdern. Ich bin überzeugt, dass es unserer Geschwisterliebe nichts nimmt, wenn wir uns aber auch Sorgen um die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Nahen Osten machen. Ich wünsche mir Stimmen wie die Michel Friedmans, die das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ durchträumen. So wie vor 30 Jahren die Stimme Jitzak Rabins: „Wir sind allesamt Menschen, die ein Zuhause bauen wollen, die einen Baum pflanzen, lieben, Seite an Seite miteinander leben wollen – in Würde, mit Verständnis füreinander, als freie Menschen.“

Die Liebe Jesu gebietet es, dass wir für die jüdischen und muslimischen Menschen eintreten, wenn sie in unserem Land wegen ihres Glaubens um ihr Leben bangen müssen. Wir sind Kinder des einen Stammvaters Abraham. Lasst uns das nicht vergessen.

Was uns betrifft in der Wandelzeit unserer Kirche: Ich glaube, wir erweisen uns einen befreienden Liebesdienst, wenn wir uns an diesem Wahltag und mit Blick auf die Zukunft unserer Kirche eingestehen und mutig sagen:

Wir können nicht mehr alles tun. Auch wenn die Erwartungen für die Zukunft sich an der guten alten Zeit festbeißen. Diese Erwartungen überfordern uns. Und sie tun nicht gut.

Wir verzichten auf ein Gemeindebild, in dem wir die Liebe eines Menschen zu Gott und seiner Gemeinde am sonntäglichen Gottesdienstbesuch messen. Wenn überhaupt, kommen noch 3% der Gemeindeglieder zum Gottesdienst, aber in unserem Denken ist diese Veranstaltung das Herz, die Mitte des Gemeindelebens. So gern ich Gottesdienst feiere, so gut mir das gemeinsame Singen, Beten und Hören tut: Die Mitte ist die Liebe. Zu mir. Zu dir. Zu denen, die mir fremd, vielleicht auch feind sind. Die Liebe zu Gott, dem großen Liebesstifter.

Wie wäre es, wenn wir einander die Freiheit gönnten, die Teilhabe am Gemeindeleben individuell zu leben. Ich glaube, dann empfinden wir es auch nicht mehr als Kränkung, wenn es für Kirchenmitglieder auch noch anderes im Leben gibt als Kirche. Eines, in dem auch andere Ansprüche an sie stellen, wie Arbeitgeber, Kinder, Enkel. Ich mag nicht in einer Kirche leben, in der der inner circle „von denen am Rande“ spricht, was noch freundlich klingt, aber lieblos ist. Die nächste Stufe sind dann die Karteileichen. Darin ist keine Liebe, wenn für die einen die anderen 90 Prozent im Bewusstsein eigentlich schon gestorben ist.

Ich träume eine Kirche, in der wir einander gelten lassen. Wir heißen die Gaben willkommen, die jemand mitbringt und einbringen möchte. Wir tragen und ertragen einander. Und jeder und jede geht dabei demütig einen Schritt zurück, hat das Ganze mehr im Blick als sich selbst.  

Ich träume eine Kirche, die sich immer wieder neu findet. Auch wenn es Not gedrungen ist. Wir wachsen trotz historischer Altlasten als Pfarrei mit der Kirchengemeinde Fischen zusammen und nutzen die nächsten sechs Jahre Legislaturperiode als Geburtsprozess für einen gemeinsamen Kirchenvorstand – auch wenn das unter schmerzhaften Wehen geschieht.

Es ist Wandelzeit. Es ist alles offen. Und darum sind du und ich in solchen Zeiten auch so empfindlich. Meine Schwester im Geiste, Dorothee Sölle, wünscht sich für solche Zeiten, dass wir uns das Fenster der Verwundbarkeit offenhalten. Sie wünscht sich dieses offene Fenster Mitte der 1980er Jahre angesichts der Aufrüstung im Kalten Krieg und der Bewaffnung von Ost und West mit Waffen bis über die Ohren. Wer sich bis über beide Ohren bewaffnet – und sei es mit der Angst, der macht buchstäblich zu. Der ist nicht mehr erreichbar und kann niemanden mehr erreichen.

Bleibe in meiner Liebe! Bewahre dir ein Fenster der Verwundbarkeit. Bewahre dir einen Zugang zu dir selber und zu den Wunden der anderen. Und Sölle fügt hinzu: dieses Fenster der Verwundbarkeit ist das Fenster zum Himmel. Wer sich verletzbar macht, der kann immer noch Ausschau halten nach dem Himmel, nach einem neuen Himmel. Nach einer neuen Liebe.

Bleibe in meiner Liebe. Der Satz – so kurz er ist – ist sperrig. Ich werde nicht fertig mit ihm – wahrscheinlich mein Leben lang. Darum halte ich das Fenster offen. Damit mich die Liebe Jesu erreichen kann, wenn ich mich mit ihr schwer tue. Damit ich den Himmel sehe, und das ist die vollkommene Freude über einen Frieden, der all unser menschlichen Vollbringen übersteigt. So sei es. Und so soll es werden. Amen.

Roland Sievers

Es gilt das gesprochene Wort.

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