Horizonte öffnen

Horizonte öffnen

Berggottesdienst am Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2023, auf dem Fellhorn
Autor: Roland Sievers

Bibeltext: 5. Mose 34, 1-5.10-12 (BasisBibel)

Horizonte öffnen. Weitblick gewinnen. Ausschau halten. Das geht besonders gut, wenn man auf einen Berg steigt. Gott führt den alten Mose noch einmal auf einen Berg. Er darf das Land schauen, nach dem er sich so sehnt:

Mose verließ die Steppe Moabs und stieg hinauf auf den Berg Nebo. Dort zeigte Gott Mose das ganze Land bis zum Meer im Westen, die Wüste im Süden, das Gebiet am Jordan entlang, von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar.

Danach sagte Gott zu ihm:» Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob versprochen habe. Ich habe geschworen, es deinen Nachkommen zu geben. Du, Mose, hast das Land zwar sehen dürfen, aber hineinkommen wirst du nicht.«

Mose starb dort im Land Moab. Einen solchen Propheten wie Mose gab es nicht noch einmal in Israel. Nur dem Mose war Gott ganz nahegekommen. Von Angesicht zu Angesicht hatte er zu ihm gesprochen. Und da waren auch noch die Zeichen und Wunder, die Mose im Auftrag des Herrn getan hatte. Er vollbrachte sie im Land Ägypten: am Pharao, an seinem Hofstaat und seinem ganzen Land. Mose hatte die Israeliten mit starker Hand geführt und vor ihren Augen unglaubliche Taten vollbracht.

Predigt

I. Ein bewegender Tag – Einleitung

Ein bewegender Tag. Der 33. Tag der Deutschen Einheit. Wir haben uns auf den Weg gemacht. Wir erleben ganz großes Kino. Festwetter. Festmusik. Festgesichter. Festgemüter. Ach, lieber Gott, danke, dass wir allen Grund zum Feiern haben. In diesem Land zwischen seinen vier Zipfeln List auf Sylt, Selfkant im Westen, Görlitz im Osten und Oberstdorf im Süden. Dazwischen so viele liebenswerte Landschaften, mit ihren Menschen und deren Dialekten. Und immer noch habe ich blinde Flecken auf meiner Deutschlandkarte. Heuer hatte ich erstmals bewusst Augen für den Freistaat Thüringen. Wie schön habt ihr es. Trotz aller wirtschaftlichen Probleme und vieler verdorrter Wälder, die es ja auch gibt. Aber Thüringer Wald, das Saaletal mit seinen Dornburger Schlössern, Jena, Rudolstadt, Saalfeld. Dazu der Rennsteig. Das hat was. Und vor allem: das Land bekommt Gesicht. Ich hätte kein Bild  von Thüringen vor Augen, wenn ich mich nicht in Bewegung gesetzt hätte. Und wikipedia ist kein Ersatz.

II. Ein bewegender Tag – Wir auf dem Berg

Für diesen Tag lautet das Motto der offiziellen Feierlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland in der Freien und Hansestadt Hamburg „Horizonte öffnen“. Wie gut, dass wir hier am Südzipfel das Motto auf dem Berg umsetzen. Denn hier bekomme ich einen anderen Horizont. Nicht nur, weil ich in freudiger Erwartung in eine andere Welt komme. Und weil ich in Urlaub und Freizeit eh aufgeräumt bin. Ich bekomme auf dem Berg eine andere Sicht der Dinge. Es ist eine Frage des Standpunkts, wie die Berggipfel ausschauen, ob ich sie vom Fellhorn oder beispielsweise vom Nebelhorn aus betrachte oder aus dem Tal heraus. Manche Berge sehe ich von Oberstdorf ja gar nicht. Aber sie gibt es. Und je höher ich komme, desto mehr Horizont habe ich. Ich mag das sehr. Und ich möchte ungern auf die Berge verzichten. Es wäre ja nicht auszudenken, wenn wir von Bayern aus freie Sicht zum Mittelmeer hätten.

Und ihr Nordlichter seid vielleicht auch froh, dass euer Blick mal eine richtige Begrenzung hat. Wer in den Niederlanden lebt oder in Dithmarschen, der kennt nur den Deich als Begrenzung des Horizonts. Und wenn er auf die weite See hinausblickt, ist der Horizont die Verschmelzung von Himmel und Meer. Das ist auch schön anzusehen. Und einen weiten Blick zu haben schadet nicht: ihr seht ja, wer in drei Tagen zu Besuch kommt und könnt euch entsprechend einstellen. Vielleicht sind Nordlichter deshalb so unaufgeregt.

III. Ein bewegender Tag – vor 33 Jahren

Der 3. Oktober: ein bewegender Tag. Auch für meine Heimatstadt Hamburg. Von der östlichen Stadtgrenze Hamburgs bis zur zum ehemaligen Grenzübergang Lauenburg Horst waren es lächerliche 25 km. Dieser menschenverachtende eiserne Vorhang war nah. Und begrenzte den Horizont. Als Kind war das andere Deutschland für mich vollkommen aus dem Blick. Luthers Wartburg, Goethes Weimar, Bachs Leipzig: verortet in einem fremden und unerreichbaren Land.

Aber dann kam diese Welt näher. In Bewegung. Ins Rollen. Allein am ersten Wochenende nach der Grenzöffnung zog es mehr als 100.000 Menschen aus dem Osten in die Hansestadt. Die Mönckebergstraße wurde vorübergehend für den Verkehr gesperrt. Mehr als 500 Trabi-Fahrerinnen & -Fahrer samt Begleitung verbringen die Nacht am 18.11.89 schlafend in ihren Autos am Hauptbahnhof. Und allein im ersten Wendejahr gewann Hamburg eine fünfstellige Zahl neuer Einwohnerinnen und Einwohner aus der (ehemaligen) DDR hinzu.

IV. Ein bewegender Tag – mit Anlauf

Schon lange vorher geriet die Welt in Bewegung. Erst in den Köpfen. Visionen sind entstanden. Gespeist vom „Nie wieder“ nach dem Krieg und dem menschenverachtenden nationalsozialistischen Regime. Hin zu dem Wunder eines unzerrissenen, eines vereinten Europa. Erreicht freilich auch unter Schmerzen: Ich denke an die zerrissenen Familien. Ich denke an die Menschen, die ihr Heil in der Flucht gesucht und dabei ihr Leben verloren haben. Ich denke jene, die aufbegehrten und niedergedrückt wurden wie beim Aufstand des 17. Juni. Und ich denke mit großer Dankbarkeit an die Menschen, die weiter geistig und auch geistlich in Bewegung geblieben sind. Die die visionären Politikerinnen und Politiker unterstützt haben. Sie haben ihr Herz in beide Hände genommen, die Hände gefaltet und daraus ihren Mut geschöpft, auf die Straße zu gehen. Und das Wunder möglich gemacht.

V. Ein bewegtes Leben – Mose

Für diese glaubensmutigen Menschen sehe ich Mose als Pate. Wir haben von seinem Lebensende gehört. Mose war von seinem ersten Atemzug in Bewegung. Wurde von der Mutter auf dem Nil ausgesetzt, weil sie das Leben ihres Sohnes vor dem Morden der Ägypter retten wollte. Sie tat das in der Hoffnung, dass Gott das Kind und sein Leben schon schaukeln würde. Und so geschah es. Mose ließ sich von Gott gewinnen, Gottes Volk in die Freiheit zu führen. Gott gab ihm dafür einen Stab, der das Meer teilte, um hindurchzuschreiten. Gott gab dem Mose zur Orientierung eine Feuersäule in der Nacht und eine Wolkensäule am Tag. Dazu stattete Gott Mose mit einem dicken Fell aus, um das Murren der Menschen auszuhalten, die zwar frei waren, aber auch nimmersatt. Gott gab Mose droben auf dem Berg Gebote, damit das Leben gelingt.

Gott und Mose waren so dicke miteinander. Niemanden ließ Gott so nah an sich ran kommen. So nah, dass er Mose in einen Felsspalt stellen musste, um ihn zu schützen vor dem Glanz seiner Herrlichkeit. Keinem offenbarte sich Gott so offensichtlich wie Mose. Ein brennender Dornbusch, der sich nicht verzehrt. Daraus spricht Gott seinen Namen: ich werde sein, der ich sein werde. Das meint: ich werde immer sein. Mit dir sein. Ich bin ewig. Ich finde: mit diesem Versprechen lässt sich leben. Denn es macht stark. Und mutig. Und am Ende des Lebens auch gelassen. Ein letztes Mal setzt Mose sich in Bewegung. Oben auf dem Berg Nebo schaut er ins Land. Das gelobte Land. Er wird es nicht mehr erreichen. Aber er hat alles getan, hat mit Gottes Hilfe den Weg bereitet, Menschen bewegt zum guten Land. Horizonte eröffnet.

VI. Ein bewegter Glauben

Ein bewegender Tag. Ein Tag, der mir einen neuen Horizont eröffnet. Der mir wieder vor Augen führt, dass das Wunder, das gelobte Land oder mindestens eine neue Perspektive so viel Geduld braucht. Manchmal ein Leben lang. Die ihr am Meer lebt oder mit dem Schiff unterwegs wart, wisst davon: Lange tut sich nichts am Horizont. Irgendwann denkt man, ist das nicht, es könnte doch? Ein Schiff? Land? sein. Solch eine Geduld wünsche ich uns in unserem Glauben. Glauben heißt: durch den Horizont blicken. Sagt ein afrikanisches Sprichwort. Mehr für möglich halten als das eigene Auge sieht. Und dann mit Udo Lindenberg singen, dass es hinterm Horizont weitergeht. Und sei es aus Trotz. Ich glaube das wirklich: Hinterm Horizont geht´s weiter, weil Gott der Ewige ist. Weit. Unendlich. Nicht verortet. Gott hat keinen Horizont.

VII. Wünsche

Ich wünsche mir für unser Land, dass wir diese Geduld aufbringen, wenn es um das Öffnen neuer Horizonte geht. Und die brauchen wir, weil die Fragen so drängend sind: wie wir miteinander leben, in welchem Klima, wie eng wir Grenzen ziehen für Menschen, die nach Deutschland kommen, weil sie ihr Heil in der Flucht suchen, und nicht für eine Zahnbehandlung. Wir brauchen Menschen in Politik, Kirche und Gesellschaft, die sich an einen Tisch setzen, geduldig die Standpunkte der anderen hören und dann geeint und mutig den Menschen einen guten Weg in die Zukunft weisen. Das ist Demokratie, die wir schon haben, die man nicht zurückerobern muss, was man jetzt in Bierzelten als Vorwahlgetöse vernimmt.

Ich wünsche unserem Land mehr norddeutsche Unaufgeregtheit und weniger populistische Empörung.

Ich wünsche unserm Land mehr Einheitssinn und weniger Trennungssucht.

Ich wünsche den Menschen in unserem Land mehr Vertrauen in die Zukunft und weniger Verbissenheit in die Gegenwart.

Ich wünsche den Menschen in unserem Land mehr Glauben. Und ich weiß, dass das angesichts der Kirchenaustrittszahlen ein kühner Wunsch ist. Ich wünsche mir mehr Glauben, weil der durch den Horizont hindurchschaut, das Wunder für möglich hält. Weil Gott dort immer noch da ist.

Und bei und mit ihm entsteht ein Friede, der größer ist als all unser Vermögen vollbringt, und eine Liebe wächst, die uns Menschen trägt. So sei es. Amen.

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