Offenes Herz
Predigt zum 400. Jahrestag des Adventsliedes „Macht hoch die Tür“ (EG 1)
Liebe Gemeinde!
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!
Wir singen es gern in der Adventszeit.
Die Worte hat vor genau 400 Jahren, im Advent 1623, der lutherische Pfr. Georg Weissel (1590-1635) gefunden anlässlich der Einweihung der Altroßgärter Kirche in Königsberg.
Die Idee kam ihm, als er kurz davor im Schneesturm in Richtung Dom geflüchtet war – und mit ihm zahllose Schutzsuchende. Der freundliche und humorvolle Mesner hatte die Domtür geöffnet und sagte mit einer tiefen Verbeugung: „Willkommen im Hause des Herrn! Hier ist jeder in gleicher Weise willkommen, ob Patrizier oder Tagelöhner! Sollen wir nicht hinausgehen auf die Straßen, an die Zäune und alle hereinholen, die kommen wollen? Das Tor des Königs aller Könige steht jedem offen.“
Weissel klopfte sich den Schnee vom Mantel,
und anschließend dem Mesner auf die Schulter,
und sagte: „Er hat mir eben eine ausgezeichnete Predigt gehalten!“ Und unter dem hohen Portal des Doms kamen Weissel die ersten Zeilen für die Kirchweih in den Sinn: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. In Stadt und Land, in Welt und Herz.
Und wie das gehen kann, wenn einer die 5.Strophe, die ich eben gebetet habe, innerlich erlebt, das habe ich in einer wunderbar fabulierten Geschichte von Holger Pyka gefunden. Gott kommt zu ihm mit Macht. Pyka schreibt so:
Geschichte: Meins Herzens Tür dir offen ist (Holger Pyka)
„Hallo, ich habe deine Anzeige gesehen: Mitbewohner gesucht.“ Er wartet gar nicht auf eine Antwort, sondern schlurft an mir vorbei in den Flur und stellt zwei vollbepackte IKEA-Taschen in eine Ecke. „Und die Tür war auf.“
„War sie nicht!“ sage ich und folge ihm.
„Doch, doch“, sagt er, und zieht seine Schuhe aus. „Hier ist heiliges Land“, erklärt er.
„Die Tür war nicht auf“, beharre ich, „ich bin mir ganz sicher, dass ich sie abgeschlossen habe. Mit Kette vor und allem.“
„Eine verriegelte und verrammelte Herzenstür“, murmelt er, „eieiei.“
„Wenn du wüsstest“, sage ich und verschränke die Arme über der Brust. Früher hat auch diese Herzenstür einmal sperrangelweit offen gestanden. Solange da Leute kommen, die tropfende Wasserhähne oder wackelige Stühle reparieren oder gut kochen, ist ja alles gut. Halt solche, denen man gerne einen Stammplatz am Küchentisch oder auf der Couch oder sogar eine eigene Seite im Bett anbietet. Aber wenn sie nach kurzer oder langer Zeit dann wieder weg sind, dann überlegt man schon zweimal, wie viele Abschiede man noch aushält. Man weiß ja auch nie, was sie alles so mitnehmen. Oder dalassen. Und dann diese anderen – irgendwie schleichen sie sich rein, und eines Morgens sind sie dann verschwunden, und der Toaster und die Mikrowelle und der Fernseher auch, aber ihr ganzer Müll ist noch da. Und man flucht und seufzt und krempelt die Ärmel hoch, und klar waren das nur Einzelne, aber wenn man das Herz einmal grundsanieren musste, dann fragt man sich schon, wie oft man sich das noch antut. Und dann ist eine fest verschlossene Herzenstür das geringere Übel.
„Verstehe“, sagt er aus dem Wohnzimmer, und ich zucke zusammen und frage mich, ob ich das letzte wirklich laut gesagt habe.
Er guckt auf die Wand gegenüber der Couch. Ein großer Riss, nicht sehr fachmännisch verputzt, wie eine schlecht verheilte Wunde.
„Ich wollte da immer mal was drüberhängen“, sage ich entschuldigend.
„Ich mag’s“, sagt er und streicht fast zärtlich darüber, „Charme, Charakter, Patina, weißt du?“
Er guckt sich um. „Ist das Altbau?“
„Öhm“, sage ich, und überlege, ab wie vielen Jahrzehnten so ein Herz alt ist.
„Die Decken sind jedenfalls schön hoch“, sagt er.
„Ach“, sage ich.
„Doch, doch“, sagt er und geht durch den Raum.
„Fenster könnten mal wieder geputzt werden“, stellt er fest, „sonst sieht man ja nichts. Aber da helfe ich dir natürlich dann bei.“
„Öhm“, sage ich.
Er zieht den Zeigefinger über die Staubschicht auf dem Fensterbrett, grinst auf seine graue Fingerspitze und pustet den Staub in die Luft. „Manchmal hat man halt besseres zu tun.“ Dann fällt sein Blick auf einen alten Sessel in der Ecke. Mit zwei Schritten ist er dort und lässt sich hineinfallen. Es quietscht und knarrt, und er verzieht das Gesicht. „Aua“, sagt er. Er steht wieder auf und schaut mit gerunzelter Stirn auf die Stahlfeder, die sich deutlich unter der durchgewetzten Sitzfläche abzeichnet.
„Der hat meiner Oma gehört“, sage ich.
„Verstehe“, sagt er und überlegt. Dann fragt er: „Macht er dich glücklich?“
„Er hat meiner Oma gehört“, sage ich nochmal.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, stellt er fest.
„Eigentlich nicht“, sage ich nach einiger Zeit und weiß gar nicht, wie ich das finden soll.
„Na also“, sagt er und fängt an, den Sessel geräuschvoll über das Parkett Richtung Tür zu ziehen.
Das Spiel wiederholt sich in der Küche, im Flur und im Schlafzimmer. Und auf einmal stapeln sich draußen vor der Tür alte Möbel, kaputte Spiegel, Kartons voller Krimskrams.
„So viel Gerümpel“, staune ich.
Als wir mit einer Flasche Bier im Wohnzimmer sitzen, staune ich, wie viel Platz auf einmal in der Wohnung ist. Als ich ihm das sage, grinst er. „Du hast eben ein großes Herz.“
„Eine Anzeige habe ich trotzdem nicht aufgegeben“, sage ich.
Er guckt mich mit großen Augen an. „Doch klar“, sagt er. „Damals, auf der Kommunion deines Neffen. Wo du die Bänke so unbequem fandst und vom Weihrauch husten musstest, aber trotzdem irgendwie wusstest, dass es noch um anderes geht. Oder als du im Oktober in Brandenburg auf dem Feld gestanden hast und in den Sternenhimmel geguckt hast. Oder als du damals sternhagelvoll und liebeskummerkrank nach Hause gekommen bist, deinen Schlüssel nicht gefunden hast und heulend vor deiner Haustür saßt, ich weiß es nicht mehr genau.“
„Ich habe keine Anzeige aufgegeben“, beharre ich.
„Vielleicht haben das auch andere für dich gemacht“, sagt er diplomatisch, „kommt auch vor.“ Dann steht er auf. „Wo ist eigentlich mein Zimmer?“ fragt er, bevor er im Flur verschwindet.
„Öhm“, sage ich.
„Hier ist ja noch eine Tür, was ist denn da?“ ruft er, und ich erstarre kurz, dann springe ich auf, rase in den Flur, stolpere fast über seine Schuhe und werfe mich vor die verschlossene Tür.
„Niemals“, keuche ich, „du kommst hier nicht rein.“
Er runzelt die Stirn. „So läuft das aber nicht“, sagt er. „Wenn ich hier wohnen soll, dann kann es keine No-Go-Areas geben.“
„Aber das geht nicht“, stammele ich, und vor meinem inneren Auge sehe ich das Zimmer dahinter. Da ist noch nie jemand reingekommen, ich vermeide ja selbst wenn möglich, da reinzugehen. Nur ab und zu mal ganz kurz, um wieder etwas reinzuschmeißen und die Tür schnell wieder zuzuknallen. Sehr schnell.
„Hör mal“, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter. „Ich glaube nicht, dass da in deiner Dunkelkammer irgendwas drin ist, was ich noch nicht schon mal gesehen habe.“
„Du hast ja keine Ahnung“, flüstere ich und merke, dass mir der Schweiß auf der Stirn steht.
Zum ersten Mal guckt er mich ernst an. „Oh doch“, sagt er nur.
„Ich packe das aber nicht“, presse ich hervor, „alles da drinnen anpacken und hochheben, und dann fragst du, ob mich das glücklich macht, und meinst du wirklich, das wäre da drin, wenn es mich glücklich machen würde, wenn ich es überhaupt nur ertragen könnte…“
„Ich weiß“, unterbricht er meinen Redeschwall. „Aber das, was für dich zu viel ist, das erledige ich.“ Sanft schiebt er mich in Richtung Wohnzimmer und drückt mich auf die Couch. Dann holt er noch eine Flasche Bier aus der Küche. „Setz dich einfach hierher, und lass mich machen.“
Dann verschwindet er im Flur. Ich nehme einen großen Schluck aus der Flasche. Meine Hände zittern. Als ich höre, wie er die Tür aufschließt, nehme ich noch einen Schluck. Mein Blick fällt auf den Riss in der Wand. Dort, wo seine Hand drübergestrichen ist, schimmert es golden. Ich höre angestrengt in Richtung Flur. Bereite mich darauf vor, dass er jede Sekunde laut flucht und angewidert schimpft und seine Schuhe und seine IKEA-Taschen packt und die Herzenstür wieder hinter sich zuknallt. Ich kneife die Augen zusammen und warte. Aber er schimpft und flucht nicht. Ich höre ihn, wie er in der Dunkelkammer rumort und räumt. Und wie er leise vor sich hin summt. …. Hmm (Macht hoch die Tür)
Es knarzt gewaltig in den Angeln, wenn wir die Herzenstüren öffnen. Aus bekannten Gründen halten wir sie gut verschlossen. Und zu Zeiten brauchen wir das. Wer wollte sich dauerhaft verwundbar machen? Höchstens für einen, dessen Macht in Liebe besteht. Der hinsieht und das Schöne, das Gute in mir findet. Der mich richtet, aber nicht hin-, sondern her-richtet.
Solchermaßen gerichtete Herzen braucht die Welt, das Land, die Stadt. Wir brauchen Menschen mit aufgeräumten, offenen Herzen. Die Platz haben – Platz gemacht haben – für einen anderen Menschen, für seine Not, für seine Freude, seine Erfahrungen. Die ein offenes Ohr haben, und bestenfalls eine gute Idee, wie es jetzt weitergeht.
Das sind die Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat. Denn sie richten ihre Herzen dafür her, damit sie (sperrangel-)weit werden.
So sei es. Amen.