Über Wale, Wehmut und Wandel

Über Wale, Wehmut und Wandel

Literatur-Gottesdienst am 16.07.2023 zu Dörte Hansens Roman „Zur See“ *

Aus rechtlichen Gründen veröffentlichen wir die Textzitate nur als Bruchstücke. Wer die volle Textversion und / oder den gesamten Gottesdienst nachlesen möchte, schreibe uns eine Nachricht. Wir schicken die Texte gern zu.
Roland Sievers

Psalmgebet der Seefahrer (nach Psalm 23)

Der Herr ist mein Lotse. Ich werde nicht stranden.
Er leitet mich auf dunkeln Wassern und führt mich auf der Fahrt meines Lebens.
Er gibt mir neue Kraft und hält mich auf rechten Kurs um seines Namens willen.
Und geht es durch Unwetter und hohe See, fürchte ich mich nicht, denn du bist bei mir, deine Liebe und Treue sind mir Schutz.
Du bereitest mir einen Hafen am Ende der Zeit. Du beschwichtigst die Wellen und lässt mich sicher segeln.
Die Lichter deiner Güte und Freundlichkeit werden mich begleiten auf der Reise des Lebens.
Und ich werde Ruhe finden in deinem Hafen immerdar.

Lesung aus Dörte Hansens Roman „Zur See“

Auf einer Fähre beginnt der Roman „Zur See“ von Dörte Hansen. Sie nimmt uns direkt mit auf die Insel:

S. 7f.: Auf einer Inselfähre … bis … ist schon verloren.

S. 8: Für die Dauer einer Überfahrt … bis … Und Winde wehn.

Der Festmacher ist Ryckmer Sander, der älteste Sohn von Hanne und Jens Sander. Er ist früher tatsächlich zur See gefahren. So ist es Tradition in der Familie Sander. Die Erfahrungen und Entbehrungen der Seefahrt stecken nun einmal in den Familiengenen. Ryckmer hat sich kontinuierlich herabgesoffen von der Kommandobrücke eines Tankers auf einen Nordseependelkahn. Jetzt darf er noch ein bisschen Seebär spielen für die Touristen. Nach Dienstschluss tankt Ryckmer in der Hafenkneipe Unmengen an Bier und Korn. Den staunenden Urlaubern erzählt er von Seeungeheuern und Monsterwellen, und gibt wahre wie frei erfundene Geschichten zum Besten. Ryckmer ist oft so betrunken, dass er manchmal abends kaum noch nach Hause findet oder am Knochenzaun seines friesischen Elternhauses strandet. Das kann auch Hanne, seine Mutter, nicht verhindern, die ihren Sohn jeden Abend an der Fähre abholt.

S. 10f.: Auf einer Inselfähre … bis … auf keinen wartet.

S. 19: Hanne Sander hat in ihrem Haus vier Fremdenzimmer … bis … Spa mit Nordseeblick.

S.188f.: Die Leute kamen irgendwann nicht mehr wie Gäste in ihr Haus. … bis … Eher so, als wären sie Nutzvieh.

S. 21: Hanne hängt an diesem Brocken Land  … bis … bis es nicht mehr wehtut.

Predigt

Ich bekenne meine Liebe zur See. Das liegt mir als Hamburger Jung nun mal in den Genen. Es zieht mich immer wieder hin. Egal, ob im Norden oder Süden. Die See tut meiner Seele gut. Sie soll es richten, der Wind mich ordentlich durchpusten. Bei langen Strandspaziergängen möchte ich den Kopf frei bekommen, leichter werden. Mit jedem Schritt sollen Kummer und Sorgen mit den Möwen davonfliegen.

Meine Liebe zur See hat in Dörte Hansens Buch einen Resonanzraum gefunden. Ich fühle mich verstanden als jemand der zwar nicht auf einer Nordseeinsel lebt, aber an diesem Ort wie auf einer Urlaubsinsel, Freizeitinsel, Auszeitinsel, Kurinsel. Diese Insel ist ein Anderland und darum ein begehrtes Ziel für die Sehnsucht. Wonach auch immer.

So also auch die Insel in Dörte Hansens Roman. Im Mittelpunkt steht die Familie Sander. Ihre Mitglieder wirken alle ein wenig verloren. Sie reden wenig, schon gar nicht miteinander. Sie sind alle irgendwie verwundet und angeschlagen von den Brüchen in ihnen und den Umbrüchen um sie herum. Jede und jeder sucht sich einen eigenen Weg, um in den Veränderungen der Zeit und des Insellebens zu bestehen. Wenn Ryckmer nicht in den Alkohol flüchtet, zählt er die Stürme und Fluten, und rechnet mit noch heftigeren Sturmfluten. Er weiß zu viel von den Gefahren des Meeres, um nüchtern einzuschlafen.

Seine Schwester Eske pflegt alte Seeleute und Witwen in einem Seniorenheim der Insel. Sie flieht vor den Touristenströmen zu Heavy Metal Konzerten aufs Festland.

Sein Bruder Henrik sammelt Treibgut und gestaltet daraus Kunstwerke.

Vadder Jens lebt seit 20 Jahren abgeschieden in einem Vogelschutzgebiet und zählt dort Vögel.

Mutter Hanne dagegen scheint ruhelos zu sein, wie getrieben, bloß nicht stehenbleiben. Sie führt Besucher durchs Heimatmuseum.

Dörte Hansen beschreibt diesen sonderbaren Menschenschlag mit großer Wärme, mit viel Sympathie und auch mit viel Humor. Immer aber schwingt die Wehmut mit von vergangenen Zeiten ohne Massentourismus und Umweltzerstörung, manchmal wird es melancholisch und traurig. Doch trotz oder vielleicht gerade, weil die Insulaner wetterfest und hartnäckig sind, bleiben sie auf erstaunliche Weise wandlungsfähig.

Was auf dieser Insel wie in einer Art Mikrokosmos geschieht, das erleben wir alle ja an unseren Orten. Wandel. Nichts bleibt wie es früher war. Das an sich ist ja noch nicht schlecht. Denn dass früher alles besser war, ist eine Mär´. Auch der Tourismus wird verklärt. Hanne Sander ist nicht frei davon. Sie sieht nur die Veränderung zum Schlechten. In ihr Lamento können wir locker einstimmen und sagen:

Wir haben als Gastgebende lange Zeit den Gast als König und Königin hofiert. Das ist kein Verhältnis auf Augenhöhe. Es ist ein Kontakt in Schieflage, bei dem sich die Gastgebenden kleiner machen mit ihren Bedürfnissen. Frei nach dem motto: wer zaht, schafft an.

Wir Gastgebende haben unsere Gäste sogar eingeladen, sich bei uns wie zu Hause zu fühlen. Manche nehmen die Einladung ungeniert an. Es ist eine Einladung zur Übernahme eines Kulturraumes, den man als Gast ja nur für wenige Tage im Jahr betritt. Auf der Strecke bleibt der Respekt. Vor den Menschen, die hier leben, vor anderen Gästen und vor Flora und Fauna. Der Umgangston rauer wird. Die Erwartungshaltung unmenschlich. Darum, liebe Gäste, muss ich es auch an dieser Stelle sagen:

Seinen Müll nimmt man selbstverständlich vom Berg wieder mit ins Tal.
Eine Petition wie „Freies Parken für alle“ bedeutet im Erfolgsfall den Kollaps für unseren Ort.
Wir, die wir hier leben, erwarten von denen, die kommen, Respekt, z.b. gegenüber der Dame am Informationsschalter im Oberstdorf Haus, dem Busfahrer, der Hüttenwirtin und dem Wanderführer.

Hanne Sander jedenfalls ist die Veränderung zum Schlechten zu viel. Sie hat sich aus dem Gastgeberverzeichnis streichen lassen. Andere ältere Vermieter*innen haben niemanden, der den Betrieb weiterführt. Geschweige denn Erben. Eine Folge: Investoren kaufen den Markt auf. Treiben Preise in die Höhe. Bezahlbarer Wohnraum für jene, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, ist Mangelware. Und wenn es den gibt, stimmt oft das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht. Das ist auf einer Nordseeinsel nicht anders als in Oberstdorf.

Die Veränderung bringt aber auch Gutes. So aufrichtig müssen wir schon sein. Darum:
Danke liebe Gäste, ob ihr jahrzehntelange Wiederholungsgäste seid oder Erstmalige.
Dank euch kommen wir, die wir hier leben, in den Genuss eines grandiosen öffentlichen Nahverkehrs im ländlichen Raum.
Züge fahren häufiger als Fähren.
Freizeitangebote gibt es zuhauf.
Die Wanderwege sind bestens gepflegt und irgendwann entspannen wir auch wieder in einer Therme. Schuhläden und Ärzte finden wir beinahe an jeder Ecke.
Und wer Arbeit sucht, kann sie in Oberstdorf finden.

Wir setzen auf einen Resonanztourismus, in dem es für Gast und Gastgebende passt.
Die Tourismus-Welt ändert sich. Genauso rasant wie unsere gesamte Welt. Ständig müssen wir neue Medien lernen und technisch nachrüsten. Kriege und Klimawandel treiben Menschen in die Flucht ohne Aussicht auf einen sicheren Hafen. Gemeinsame Werte zerbröseln. Friedensordnungen werden aufgeweicht. Die Inflation ist wieder angekommen in Deutschland. Und rechtes Gedankengut auf Landrats- und Bürgermeistersesseln.

Auch unsere Kirche verändert sich rasant. Viele gehen. Und stellen die Bleibenden vor die Frage: Wie können wir mit weniger personellen und finanziellen Mitteln Kirche sein? Wie müssen wir Kirche sein, um weiter in der Gesellschaft und Politik relevant zu sein? Wir stecken mitten drin in einem immensen Transformationsprozess, in dem irgendwie alles fließt, nichts bleibt wie es war, nichts unveränderlich scheint.

Oder doch? Was sagt die Bibel dazu? Was sagt euch euer Glaube? Ist er ein verlässlicher Halt in wandelnden Zeiten? Ist unser Gott verlässlich, gütig und gnädig in Zeitenwenden, die uns zutiefst verunsichern? Alles wankt! Wankt Gott mit uns?

Hier kommt die gute Nachricht aus dem Buch des Propheten Jesaja (43 i.A.):

Nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat und dich gemacht hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch tiefe Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Du bist teuer in meinen Augen und wertvoll. Ich habe dich lieb. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir.

Welch ein tröstliches Gottesbild steht hinter diesen Worten des Propheten Jesaja! Gott bewegt. Gott bewegt sich. Gott ist in greifbarer und ergreifbarer Nähe. Gott lässt sich berühren und berührt. Gott ist sehr persönlich: er kennt dich und mich mit Namen.

Welch ein großartiges Bild: im Wandel, im Kuddelmuddel ist Gott da. Wenn Gletscher schmelzen, Berge rutschen, Wasserspiegel ansteigen, hier die Kreatur austrocknet, dort überschwemmt wird. Gott weicht nicht, im Krieg nicht und im Erdbeben auch nicht. Er steht uns zur Seite, gerade dann, wenn wir uns vor der Zukunft fürchten und der stetige Wandel uns ängstigt. Wenn alles wankt, ist er da, wankt mit und hält stand. Gott ist verlässlich, aber nicht statisch.

Nichts bleibt wie es war, alles verändert sich – auch der Glaube gehört dazu. Das spürt schmerzhaft mein Kollege, der Inselpastor Matthias Lehmann. Seit zwanzig Jahren verrichtet er seinen Dienst in der Seemannskirche der Insel. Sie nennen ihn den „schönen Pastor“ oder den „Impressario des Herrn“, weil er die Gabe hat, „Menschen zu begeistern, aufzuschließen, sie zum Glauben zu verführen“. Er ist sehr sportlich. Früh morgens joggt er am Strand, sammelt Muscheln und Möwenfedern für seine Konfirmand*innen, grüßt seine „Schäfchen“ im Vorbeilaufen und füllt sich an mit Schöpfungslob und -dank.
Doch hinter der schönen Fassade gibt es Risse: Lehmanns Frau will aufs Festland ziehen und nur am Wochenende auf die Insel kommen.
Im Gästebuch seiner Kirche schreibt jemand mit grüner Tinte böse Sätze wie „der Pastor glaubt doch selbst nicht, was er hier von Sand und Salz zusammenpredigt“ (121). Und als er am 1.Sonntag nach Epiphanias seine Predigt schreiben will, stellt er fest: „Er hat kein Netz. Abgeschnitten, (er hat) keinerlei Verbindung mehr zu seinem Gott und keine Nachrichten“. Kein Kontakt. Lehmann hat die „Pastoritis“. Er krankt daran, dass er Gott nicht mehr hört, sieht, spürt, oder um es mit Jesajas Worten zu sagen: Es kommt ihm vor, als hätte Gott seine Hand losgelassen, jetzt wo ihm das Wasser bis zum Hals steigt und Angst sich breit macht, wie das wird als Teilzeit-Single und ohne kreativen flow.

„Es war nicht seine erste Pastoritis“, schreibt Dörte Hansen. „Man kann für Glaubensprüfungen nicht lernen, sie kommen unverhofft und fragen Dinge ab, mit denen man nicht rechnet.“ (224) Die Pastoritis bleibt die ganze Passionszeit und verschwindet – Gott sei Dank – mit dem Aufatmen, der Freude und der Dankbarkeit am Ostersonntag. Aufstehen. Weil einer deinen Namen sagt. Seine Hand ausstreckt. Aufhilft. Durchträgt wenn´s die Not verlangt.

Mit Bildern vom Tod und neuem Leben endet auch dieser Roman: Eines Tages strandet ein toter Wal auf der Insel. Vorbei ist es mit der Inselruhe. Die Insulaner wie alle anderen dürfen sich ein wenig erschrecken, wenn an einem Wintermorgen ein Pottwal in der Brandung strandet. Sie wissen nicht mehr, was man tun muss und wie man einen Wal zerlegt. In den Genen der Familie Sander aber ist dieses Wissen noch vorhanden.

Einer von ihnen schaut dem Tod buchstäblich ins Auge und sieht darin die Schwärze der Meerestiefe. Einer steht bis zum Hals im Tod und weidet den Kadaver aus. Einer weiß Geschichten zu erzählen von den Vorfahren auf Walfang. Und Hanne will das Skelett um jeden Preis für das Inselmuseum. Die Familie kommt in Bewegung. Das Buch von Dörte Hansen nimmt eine Wendung zu einer Auferstehungsgeschichte: in der Begegnung mit dem Tod kommt sich die Familie Sander wieder nahe.

Aber mehr verrate ich euch heute nicht. Wer wissen möchte, wie es weitergeht, muss nun selber lesen. Es liest sich gut und es macht Freude.

Amen.

*Herzlichen Dank an meine Kollegin Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann an der St. Katharinenkirche in Hamburg. Einige Gedanken von ihr sind in die Predigt eingeflossen.

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