Yesterday – Vom Segen und Fluch der Nostalgie

Yesterday – Vom Segen und Fluch der Nostalgie

7. Sonntag nach Trinitatis, 14. Juli 2024
Predigt zu 2. Mose 16, 2-3.11-18

Text

Es war am 15. Tag des zweiten Monats, gezählt vom Auszug aus Ägypten an. Wieder murrte die ganze Gemeinschaft Israel gegen Mose und Aaron dort in der Wüste. Sie sagten zu beiden: „Der Lebendige hätte uns doch auch in Ägypten töten können, da saßen wir bei den vollen Fleischtöpfen und hatten genug Brot zu essen. Aber ihr habt uns hierher in die Wüste geführt, damit die ganze Gemeinde verhungert.“
Und der Lebendige sagte zu Mose: „Ich habe den Protest der Töchter und Söhne Israels gehört. Sag zu ihnen: In den Abendstunden werdet ihr Fleisch essen und am Morgen werdet ihr vom Brot satt sein. So werdet ihr erkennen, dass ich der Lebendige bin, Gott für euch.“
Tatsächlich: Am Abend zog ein Schwarm von Wachteln herauf und bedeckte das Lager. Und am Morgen war Tau rund um das Lager gefallen.
Als der Tau verdunstet war, da, auf dem Wüstenboden: ein feines Knistern, fein wie Raureif auf der Erde.
Die Töchter und Söhne sahen das und fragten einander: „Man hu? Was ist das?“ Denn sie wussten nicht, was das war.
Mose sagte zu ihnen: „Das ist das Brot, das der Lebendige euch zu essen gibt. Dafür gilt die Anweisung des Lebendigen: Sammelt davon, so viel ihr jeweils zum Essen braucht, ein Krugmaß pro Kopf, nach der Anzahl Eurer Personen. Alle sorgen für ihr eigenes Zelt.“
So machten es die Töchter und Söhne Israels. Sie sammelten, die einen viel, die anderen wenig. Als sie mit dem Krug maßen, hatten die, die viel gesammelt hatten, nichts übrig und die, die wenig gesammelt hatten, keinen Mangel. Alle hatten gesammelt, so viel sie brauchten.

Predigt

Früher war alles besser. Da gab es noch Sommermärchen.
Da wurde Deutschland noch Europameister.

Früher war alles besser. Früher war mehr Lametta.

Früher war alles besser. Da gab es noch einen Genitiv. Und so schöne alte Wörter wie Gabelfrühstück. Das heißt jetzt Brunch. Häppchen Fingerfood. Ein Kind hieß früher Göre. Galanteriewaren und Gutdünken fand ich immer hübsch. Ergötzen auch. Und erst recht die Lindigkeit, weil sie hellgrün im Herzen ist wie Frühling und leise Hoffnung. Und das bringen Sie mal jemandem bei, wenn es nicht mal mehr ein Wort dafür gibt.

Früher war alles besser. In der guten alten Zeit schwelgen, tut gut. Besonders in unruhigen Zeiten. Während der Corona-Pandemie haben sich etliche Menschen auf ihr vergangenes Leben zurückgeworfen. Haben Musik ihrer Jugend gehört. Sich erinnert, was gut war. All das gehört zum Leben und ist nicht verloren, selbst wenn gerade Vieles infrage gestellt ist.

Früher war alles besser. Für manche ist das ein Mantra. Ich bete es nicht mit. Manches war vielleicht tatsächlich besser. Aber alles sicher nicht. Ich bin dankbar für fließendes Wasser. Medizin. Für eine gute Ausbildung. Für die Freiheit zu sagen und zu glauben, wie es mir entspricht. Für meine Krankenversicherung, auch wenn sie teuer ist.
Früher war nicht alles besser, weil früher, wann auch immer das eigentlich ist, die Welt sich auch stetig verändert hat. Anfang der 1970er Jahre war zum Beispiel Ölkrise. Das Wirtschaftswunder nach dem Krieg kam ins Stocken und die Nachkriegshoffnungen verloren an Grün. Da geht der Blick zurück in eine Zeit voller Fleischtöpfe.

So auch bei Gottes Volk. Es blickt zurück – voller Sehnsucht. Und ich denke: liebe Leute, was erzählt ihr denn für einen Schmarrn. Früher war alles besser. Ich wünschte den Gottesfrauen und -männern mehr grün im Herzen. Einen neuen Frühling. Mehr Lindigkeit statt Murren.

Aber es gibt sie nun mal, diese sogenannten Murrgeschichten vom Gottesvolk. So echte Grantlerstories. Das murrende Granteln hat sich zu einem Lebensgefühl entwickelt. Und man gefällt sich dabei, die Vergangenheit zu verklären.

Früher war alles besser. Das ist einfach Quatsch. Die Menschen  sehnen sich nach den Fleischtöpfen in Ägypten, die es nicht gab. Das Volk Israel lebte in Gefangenschaft. Der Pharao hatte das sagen. Er befahl ihnen harte Arbeit und karges Mahl. Als er merkte, dass seine Gefangenen zu kräftig wurden, rationierte er das Essen. Die Bibel erzählt, dass Gott genau das nicht will:
Geknechtete Menschen. Bevormundete Menschen. Er beruft sie zur Freiheit. Geht voran. Raus aus Ägypten. In Richtung Gelobtes Land. Doch Gottes Gefolge zaudert. Die jungen Menschen sind da geboren. Sie kennen kein anderes Land. Sie kennen nichts anderes als den Befehl des Pharaos.
Und die Alten wissen auch nicht, ob sie das Ziel überhaupt erreichen werden in ihrer Lebenszeit. Und wenn ich mir da nicht
sicher bin, warum dann also losgehen?
Aber es geht los. Durchs Meer. Durch Wüste. Frei, aber ohne Heimat. Ohne sichere Versorgung. Ohne Führung. Zumindest empfinden die Menschen es so. Mit Gott und seinem Auserwählten Anführer Mose sind sie nicht zufrieden. Es läuft nicht in der Freiheit. Und wenn es in der Freiheit nicht läuft, dann bekommen Menschen ziemlich krude Phantasien. Dann wünschen sich manche eine Mauer wieder zurück. Und andere, die noch weiter rückwärtsgewandt sind, ein Land, das wieder eine Auslese bei den Menschen einführt, die in ihm leben dürfen. Damit es wieder reicht für alle. Denn jetzt nehmen uns ja angeblich Neigschmeckte Deutsche die Arbeit weg und auch die Sozialleistungen. Und es ist an der Zeit sich unser Land zurückzuholen und unsere Demokratie auch! So ein Blödsinn! Murren aus Unzufriedenheit setzt sich schnell fest. Macht das Herz hart und vernagelt die Köpfe. Dann sind Herz und Kopf unerreichbar für Argumente und Wohltaten. Da kannste dich abstrampeln, wie du willst, es wird nie genug sein.

Gott und Mose machen diese Erfahrung. Die Menschen tragen ihren Schmerz vor sich her. Schon in Ägypten flehte das Volk Mose an. Lass uns bitte hier. Wir wollen hier arbeiten, nirgendwo anders. Wir wollen uns nicht bewegen. Wir wollen sichere Verhältnisse. Wer weiß, wohin uns der Weg führt?

So murren sie weiter unlustig vor sich hin: „Gab es denn keine Gräber für uns in Ägypten? Warum hast du uns das angetan.“ Wunder über Wunder erfahren die Menschen. Aber das Volk ist ein Wunderfresser. Wie ein Fass ohne Boden. Kein Wunder reicht. Nicht das Teilen des Meeres. Nicht die Feuersäule bei Nacht. Nicht die Wolkensäule bei Tag. Nicht das Verwandeln von ungenießbarem Wasser in Trinkwasser. Sie singen zwar mal ein Loblied. Verfallen dann aber wieder schnell ins Murren. Was sollen wir trinken sieben Tage lang, so ein Durst. Und so ein Hunger. Auch die 12 Quellen und 70 Dattelbäume, die sie unterwegs finden, machen sie nicht zufrieden. Nichts reicht. Es ist einfach nicht genug.

Ungesättigte Hoffnung ist gefährlich. Ich meine, was uns diese Murrgeschichte erzählt, ist ja sowas von real: wenn die Menschen notorisch unzufrieden sind, erfinden sie Verschwörungsmythen. „Der Lebendige hätte uns doch auch in Ägypten töten können, da saßen wir bei den vollen Fleischtöpfen und hatten genug Brot zu essen. Aber ihr habt uns hierher in die Wüste geführt, damit die ganze Gemeinde verhungert.“ Geht´s noch? Warum sollte Mose das tun, sie wegführen, damit alle, ihn eingeschlossen, umkommen? Aber so hat man mit Mose eben jemanden, auf den man mit dem Finger zeigen kann; jemanden, der es verdient hat, angemotzt zu werden, verachtet und als unfähig bezeichnet. Mir fällt dazu nix ein.

Und darum bin ich voll an Bewunderung für Gott. Er sagt dazu nichts. Unbeirrt setzt er zu einem neuen Wunder an. Wachteln am Abend. Manna am Morgen. Und unter denen, die davon eingesammelt haben, werden viele gesagt haben: Danke, lieber Gott, dass du uns so viel gibst, dass es für alle genug ist.
Und die notorischen Nörgler werden weiter murren und sagen: Was? Trennkost? Morgens Kohlehydrate, abends Eiweiß. Und was ist das bitte? Manna? Da kannste ihnen zig mal sagen, dass es süß wie Honigtau ist. Wenn sie hören, dass es ein Ausscheidungssekret von Schildläusen, dann werden sie sauer und murren weiter.

Und so wird es sein bis ans Ende aller Tage. Kann man nichts machen, oder? Doch kann man. Mit Nostalgie zum Beispiel. Also mit der guten Art und Weise, zurückzuschauen, sich zu freuen an den wundervollen Erfahrungen, die nicht verloren gehen, die das Leben reich machen. Und Loblieder singen. So ist Nostalgie eine Lebenshilfe. In Wüstenzeiten.

Dem Murrvolk sei gesagt: wenn ihr denn wollt: es gibt Hilfe. Ihr könnt Murren bis der Arzt kommt. Gott. Seinem Volk sagt Gott das so: Ich bin Gott, euer Arzt. Ich stelle mir vor, dass der sich auch mit einer Nostalgie auskennt, die pathologische Züge bekommt. 1688 schon hatte der Arzt Johannes Hofer Nostalgie als eine Krankheit diagnostiziert. Wörtlich übersetzt ist Nostalgie „Heimkehr-Schmerz“, also Heimweh. Hofer hatte einst bei Soldaten krankhaftes Heimweh festgestellt.

Nostalgie ist die Krankheit im Unterwegssein. Die Sehnsucht nach Heimkehr, nach einem Ort, an dem Gutsein ist. Wo auch immer dieser Ort ist. Er kann in der Vergangenheit liegen und dann ist „Yesterday“ mein Lied. Oder dieser Ort liegt in der Zukunft und nennt sich Gelobtes Land.

Ich glaube, du und ich sind nicht gut beraten, die Vergangenheit zu verklären oder uns aufs Jenseits zu vertrösten. Wir leben jetzt. Wir leben hier. Du und ich können daran leiden. Und frei sagen: Keine Kraft mehr. Ich brauche gerade mehr Himmel als Erde. Ich brauche mehr Blick für mein Haben als für mein Soll. Und ich höre von Gott, meinem Arzt: Ich kümmere mich. Damit du dich zuhause fühlst, wo du gerade bist. Dafür speise ich dich. Mit Himmelsbrot. Du kannst davon so viel einsammeln, wie du braucht. Sammle ein Wort, wenn dir das reicht. Sammle hundert Farben, wenn sie dich beglücken. Sammle tausend Töne, wenn du in eine Sinfonie eintauchen willst. Sammle zwei Brote, wenn du für jemanden sorgst. Sammle Honigtau gegen alles Bittere. Sammle Wachteln, wenn du wieder beflügelt sein möchtest. Sammle, was du brauchst. Es ist genug da.

Ich glaube: das ist Himmelsbrot. Ich rette mir damit ein Stück vom Lebendigen. Gönne meinem Herzen Lindigkeit und tauche meine Hoffnung in Frühlingsgrün. Ich werde selber Wort und Ton, Farbe und Brot, Honigtau und Flügelwesen. Fachkraft für die Heimatlosen. Hoffnungsmaler. Kümmerer. Heimwehschmerzenlinderer. Wüstenbegleiter. Willkommenheißer im Jetzt und Hier.

Ich glaube auch: das Himmelsbrot vollbringt Wunder. Heimweh war gestern. Lebensfreude ist angesagt. Und die mündet in das Lob, das den Lebendigen preist. So sei es. Und so soll es werden. Amen.

Roland Sievers

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